(Bearbeitungsstand vom 5. Dezember 2019)
Theodor Reik, Dr.phil. (* 12. Mai 1888 in Wien; gest. 31. Dezember 1969 in New York City) war Psychoanalytiker und Psychologe. Er lebte, nach kurzen Studienaufenthalten zwischen 1914 und 1922, von 1928 bis 1932 in Berlin. Reik war einer der ersten, der die Psychoanalyse für ein tieferes Verständnis von Literatur, Religion und von Verbrechen nutzte. Ein gegen ihn geführter Prozeß veranlasste Sigmund Freud zu einer grundsätzlichen Stellungnahme für die Ausübung der Psychoanalyse auch durch Nichtärzte. Nach seiner Emigration über Holland nach New York, gründete er die „National Psychoanalytical Association for Psychoanalysis“ (1948) mit dem „Theodor Reik Clinical Center for Psychotherapy“
Theodor Reiks Berliner Adressen
1929-1931 Berlin-Schmargendorf, Reichenhaller Straße 1.
1932, 1933 Berlin-Dahlem, Podbielski-Allee 20
Zur Biographie
Theodor Reiks Herkunft
Theodor Reik wurde als drittes Kind des jüdischen Bahninspektors Max Reik (*12.Jan.1840, Wien; gest.1907) und seiner Ehefrau Karoline Treibitsch (*1856; gest.1910) geboren. Vier ältere Geschwister Theodor Reiks starben schon als Babys. Der Großvater (mütterlicherseits) stand in der Tradition der zelotischen Juden. Der Großvater (väterlicherseits) war Talmud-Gelehrter. Sein Vater, ein Agnostiker, stritt oft mit ihm über religiöse Fragen. Theodor Reiks beide älteren Brüder Otto (+ 15 J.) und Hugo (+17 J.) waren später ebenfalls bei der Bahn tätig. 1892 wurde Theodor Reiks jüngste Schwester Margarete geboren. Die Familie war arm, und die jüngere Schwester musste bereits mit 14 Jahren in einem Büro arbeiten. Die Brüder wurden von den Nationalsozialisten ermordet, die Schwester konnte in die USA fliehen und führte Theodor Reik in seinen letzten Lebensjahren den Haushalt.
Tod seines Vaters und erste Begegnung mit Sigmund Freud
Theodor Reiks Sprachbegabung zeigte sich schon früh. Von seinem Großvater (mütt.) lernte er Hebräisch, mit 6 Jahren Französisch und mit 18 Jahren Englisch. Kurz bevor Reik, 1907, das Abitur am Sophiengymnasium in Wien bestand, erlitt sein Vater einen Herzinfarkt. Der ihn behandelnde Arzt beauftragte Theodor zu einer Apotheke zu laufen, um Medizin für eine Injektion zu besorgen. Er rannte los so schnell er konnte - aber er war zu spät. Als er zurückkam, war sein Vater bereits gestorben. Theodor Reik machte sich schreckliche Vorwürfe. Sein Vater war ein Verehrer von Goethe gewesen, und nun las er alle Werke Goethes. Später, in seiner Analyse bei Karl Abraham, lernte er auch seine Ambivalenz seinem Vater gegenüber kennen (Swerdloff 1965, 2/S.24).
1907 begann Theodor Reik in Wien Psychologie, Germanistik, Französische Literatur und Religionswissenschaften zu studieren. Friedrich Jodl, sein Psychologieprofessor, erzählte seinen Studenten mit einem feinen ironischen Lächeln, dass es in Wien einen Neurologen gebe, der behaupte, dass das Vergessen das Ergebnis von Verdrängung („repression“, Swerdloff, Int. 1 S.1.) sei. Reik: „Wir lächelten auch“. Dennoch las Reik die „Psychopathologie des Alltagslebens und die Traumdeutung“ dieses „Neurologen“, namens Sigmund Freud. Er war sofort begeistert und besuchte Freuds Vorlesungen. 1910 nahm er Kontakt zu ihm auf, und sie unterhielten sich sehr angeregt über „die Versuchung des heiligen Antonius“ von Gustav Flaubert. In der Literatur fanden sie viele Berührungspunkte. Bis zu seinem Lebensende teilte Reik Freuds Liebe zu Anatole France. Um ihn finanziell zu unterstützen, vermittelte Freud ihm eine Anstellung in einer der bekanntesten Wiener Buchhandlungen, die von Hugo Heller geführt wurde. Seit 1913 gehörte Heller als kooptiertes Mitglied dem Vorstand der Wiener Psychoanalytischen Gesellschaft an.
1912 erschien Reiks erstes Buch über den von ihm bewunderten Dramatiker und Lyriker Richard Beer- Hofmann. Später nannte er sogar seine jüngste Tochter Miriam nach der Tochter Beer-Hofmanns.
Theodor Reiks Ausbildung zum ersten kultur- und literaturwissenschaftlichen Psychoanalytiker
Wilhelm Stekel führte Reik in die Wiener Psychoanalytische Vereinigung ein. Nach seinem Vortrag „Über Tod und Sexualität“ (15. November 1911) wurde er zum Mitglied der Vereinigung. Da Freud immer wieder Patienten aus vielen verschiedenen Ländern hatte, die etwas Deutsch lernen wollten, schickte er sie zu Reik, der ihnen Sprachunterricht erteilte. Z.B. unterrichtete er die Tochter des berühmten russischen Malers Ilja Jefimowitsch Repin. Freud behandelte sie an 5 Tagen in der Woche, und sie erzählte Reik, was in der Analyse geschah. Das missfiel Freud. An einem Beispiel erklärte er Reik den Grund: Wenn man eine Mühle mit der Kraft eines Wasserfalls betreibt, dann aber mit einem Abflusskanal den Wasserfall anzapft oder sogar ganz umleitet, geht die Wasserkraft den Betreibern der Mühle verloren (Swerdloff 1965, 1/S.5). Dieses Bild überzeugte Reik.
Eigentlich wollte Theodor Reik Medizin studieren, doch Freud riet ihm ab. Er hielt ihn für sehr begabt und bot ihm ein Stipendium zur psychoanalytisch-literarischen Forschung an. Reik ging 1912 nach Paris und verfasste die erste Promotion (Dr. phil.) auf psychoanalytischer Grundlage mit dem Titel: „Die Psychogenese von Flauberts Versuchung des heiligen Antonius“. Der brillante Theaterkritiker Alfred Kerr schrieb das Vorwort.
Sigmund Freud unterstützte Theodor Reik finanziell mit 200 Reichsmark monatlich bis ins erste Ehejahr 1914. Ebenso wie Freud und Eduard Hitschmann gehörte Theodor Reik der B'nai B‘rith - Loge in Wien an. Reik konnte sich, schon als junger Mann von 24 Jahren, zusammen mit Otto Rank und Hanns Sachs, zu dem engsten Kreis um Freud zählen. Sie wurden das „psychoanalytische Trio“ genannt. Freud schickte ihm immer wieder Patienten. Rückblickend war für Reik seine Begegnung mit Sigmund Freud das größte Glück, das ihm in seinem Leben begegnete (Swerdloff 1965, 3/S.94). Mit anderen Psychoanalytikern verkehrte er kaum. Seine Freunde waren Schriftsteller. Unter ihnen Arthur Schnitzler, Felix Salten, Richard Beer-Hofmann und Hugo von Hofmannsthal.
Den ersten Preis für eine Arbeit der angewandten Psychoanalyse ("Prix d'honneur') vergab Sigmund Freud an Theodor Reik für seine Studien über „Die Pubertätsriten der Wilden“ (Imago, Vol IV, 1915/16). Freud schrieb dafür das Vorwort. Er ermutigte Reik, die untergründigen Beziehungen von Gruppen und Nationen mit den Mitteln der individuellen Psychoanalyse aufzuspüren. Theodor Reik hatte jedoch andere Pläne. Ab 1917 recherchierte er zur hebräischen Vorgeschichte der Bibel, arbeitete über die Kreativität von Frauen, über den Sinn von Schuldgefühlen und über das Geheimnis der Berg Sinai- Geschichte.
Analyse bei Karl Abraham und 1. Weltkrieg
Nach kurzer redaktioneller Tätigkeit bei Hugo Heller, der die psychoanalytische Periodica verlegte, siedelte Reik im Februar 1914 nach Berlin über. Hier war er vor allem journalistisch tätig und ging zu Karl Abraham in Analyse, der ihn kostenlos behandelte, weil er kein Geld hatte. In der Analyse, die nur bis Reiks Rückkehr nach Wien, im Herbst 1914 dauerte, ging es um seine ambivalenten Gefühle seinem Vater gegenüber. Abrahams Technik unterschied sich von der Freuds. Wenn der Patient nicht frei assoziieren konnte, bat er ihn um einen Überblick seiner Lebensgeschichte. Dabei sollte er auch Einfälle dazu assoziieren. Theodor Reik schätzte die Analyse bei Abraham sehr, obwohl ihre Beziehung keineswegs harmonisch war. Abraham war Norddeutscher. Sein Lieblingsdichter war Christian Morgenstern. Reik dagegen war Wiener, der für Gustav Mahler schwärmte und dessen Musik liebte (Eissler 1954, S.53). Grundsätzlich unterschiedlicher Ansicht waren sie in Bezug auf die Laienanalyse. Im Gegensatz zu Reik favorisierte Abraham ärztlich vorgebildete Psychoanalytiker.
Theodor Reik heiratete am 31.Juli 1914 seine, aus einer katholischen Familie stammende, Jugendliebe Eleonore „Ella“ Oratsch oder auch Pratsch genannt (*4. Mai 1890; gest.1934). Am 20. Mai 1915 wurde ihr Sohn Arthur (genannt nach Arthur Schnitzler) geboren (gest. 4. November 1988). Zu seiner Geburt schickte Freud ihm 200 RM „für die liebe Wöchnerin“.
Bereits im Januar 1915 wurde Reik zum Kriegsdienst eingezogen und diente als Kavallerieoffizier in einem ungarischen Regiment bis Oktober 1918. Er war in Montenegro und Serbien stationiert und wurde in Italien leicht verwundet. Zwischendurch schrieb er kleine Zeitschriftenbeiträge (in der Neuen Freien Presse), um etwas Geld zu verdienen. Freud riet ihm, sein Schreibtalent nicht in leichtem Feuilleton zu verschwenden, sondern in psychoanalytisch-kulturwissenschaftliche Arbeiten zu investieren. Am 28. und 29.September 1918 nahm er an dem Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung in Budapest teil.
Nach dem 1. Weltkrieg wurde Reik Bibliothekar und 2. Sekretär in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. 1921 richtete er eine internationale Zentralstelle für psychoanalytische Literatur als wissenschaftliches Informationszentrum ein, und übernahm, auf Empfehlung Freuds, die Position des Literaturdirektors mit Verantwortlichkeit für Referate und Jahresberichte. Nach einem einjährigen Aufenthalt am Berliner Psychoanalytischen Institut (1921/22) kehrte er nach Wien zurück. 1923 entstand
"Der eigene und der fremde Gott: zur Psychoanalyse der religiösen Entwicklung." Es folgten mehrere kriminologische Arbeiten, darunter: "Geständniszwang und Strafbedürfnis: Probleme der Psychoanalyse und Kriminologie" (1925).
Die "Laienanalyse", das große Konfliktthema der psychoanalytischen Bewegung
Heilen war in Österreich und anderen europäischen Ländern nur Ärzten vorbehalten. Theodor Reik praktizierte ohne ärztliche Vorbildung und wurde im Herbst 1924 von der Ärztekammer beim Wiener Senat angezeigt. Obersanitätsrat Arnold Durig, der für die Überwachung ärztlicher Berufe verantwortlich war, ersuchte Sigmund Freud um eine Expertise zur “Laienanalyse“. In dem sich anschließenden Gespräch fanden beide zu einer „weitreichenden Übereinstimmung“. In seinem Statement verwahrte sich Freud dagegen, dass die Psychoanalyse von der Medizin „verschluckt“ werde – denn ohne fundierte psychoanalytische Ausbildung seien sowohl Ärzte als auch Nicht-Ärzte „Laien“ (Schröter 2003, S.122). Durig konnte sich letztlich nicht gegen den Universitätspsychiater Julius Wagner-Jauregg, der die ärztliche Vorbildung vertrat, durchsetzen und so wurde Theodor Reik am 24. Februar 1925 die Ausübung der psychoanalytischen Praxis vom Wiener Magistrat untersagt. Freud war empört und wandte sich im März 1925 erneut an Arnold Durnig. Er konnte aber nicht verhindern, dass im Frühjahr 1926 ein Strafverfahren gegen Reik eingeleitet wurde. Freud sah nun den Anlass zu einer grundsätzlichen, öffentlichen Stellungnahme gekommen und verfasste die Schrift „Die Frage der Laienanalyse: Unterredungen mit einem Unparteiischen“ (Sept.1926). In dem „Unparteiischen“ ist Durig zu erkennen. In einem imaginären Dialog entwickeln sie ein Plädoyer für nichtärztliche Psychoanalytiker (Freud, 1926). In dieser heiklen Situation zeigte der amerikanische Arzt und ehemalige Patient Reiks, Newton Murphy, Reik wegen „Kurpfuscherei“ an. Newton Murphy hatte ursprünglich zu Freud in Analyse gehen wollen und Freud hatte ihn, zu seinem Ärger an Reik überwiesen. Freud verteidigte Reik. (Gay 1998, S.550 ff). Die Klage gegen Reik wurde 1927 abgewiesen.
Da in Deutschland noch Kurierfreiheit bestand, also das Heilen nicht nur Ärzten vorbehalten war, ging Reik 1928 nach Berlin, eröffnete seine Praxis und wirkte als Dozent und Lehranalytiker am Berliner Psychoanalytischen Institut.
Zur Frage der wissenschaftlichen Methodik der Psychoanalyse. Theodor Reik als Kritiker Wilhelm Reichs
In der lebendigen Diskussionskultur des Instituts positionierte sich Reik als Kritiker Wilhelm Reichs. Reich forderte die systematische Deutung der Übertragungsneurose unter Berücksichtigung der Neurosenstruktur nach einer klaren „Marschroute“. Der Panzer des neurotischen Charakters müsse durch Widerstandsdeutungen aufgebrochen werden. In seinem Vortrag „Neue Wege analytischer Technik“ (1932, IPV-Kongress, Wiesbaden), den er zu seiner Buchveröffentlichung „Der überraschte Psychologe“ (1935) ausarbeitete, entwarf Reik eine grundsätzlich andere therapeutische Haltung. Der Analytiker solle sich von einer starren Planmäßigkeit befreien und sich als zur Überraschung fähiges Gegenüber des Patienten verstehen und dessen Unbewusstes intuitiv erfassen. Vernunft sei ein völlig ungeeignetes Instrument, um unbewusste seelische Prozesse zu verstehen. An dieser Kontroverse handelte Otto Fenichel zwischen 1932 und 1936 die Frage der Wissenschaftlichkeit der Psychoanalyse, bzw. des Agierens mit Wissenschaftlichkeit, ab (Schröter 2005; Fenichel 1998, S.412-418). Fenichel kritisierte an Reiks Position dessen Parallelführung zwischen innerpsychischen und gesellschaftlichen Konflikten und betonte stattdessen die wirklichen Interessengegensätze, z. B. gesellschaftlicher Klassen (Fenichel 1998, S. 860).
Paula Heimann, Reiks Lehranalysandin in Berlin, die ihren Lehrer nach dessen überraschendem Weggang sehr vermisste (s.u.), schrieb ihm am 7. Februar 1933, eine Woche nach der nationalsozialistischen Machtübernahme von der sich polarisierenden Diskussionskultur am Berliner Psychoanalytischen Institut. Eine Kopie schickte sie auch an Max Eitingon. Unter dem despotischen Einfluss von Wilhelm Reich, gewönnen aggressive, holzschnittartige Deutungen des Charakterpanzers des Patienten mehrheitliche Zustimmung. Paula Heimann fühlte sich mit ihren Einwänden auf verlorenem Posten (Rolnik, 2005).
Vertreibung aus Deutschland und Konflikte in der Niederländischen Psychoanalytischen Vereinigung
Bereits im Dezember 1932 verließ Reik Deutschland. Paula Heimann führt seinen überstürzten Aufbruch darauf zurück, dass er einen sehr wohlhabenden Patienten in Wien behandelte und dafür seine Analysanden im Stich gelassen habe (Lockot 1995, S.147).
Reiks endgültiges Emigrationsziel stand noch nicht fest. Er wandte sich sowohl an Ernst Jones in England, als auch an van Ophuijsen in Holland. Für Jones war Reik ein besonderes „Sorgenkind“. Als Nichtarzt wollte er ihn nicht in England haben. Außerdem galt Reik als schwierig im kollegialen Umgang und als unseriöser Analytiker (Steiner 2000, S.174 ff). Nach seinem Zwischenaufenthalt in Wien, bei dem er auf Spaziergängen mit Freud über seine Patienten sprach und Rat für seine Lebensentscheidungen einholte, siedelte er auf Bitten holländischer Patienten in die Niederlande nach Den Haag über. In Amsterdam studierte sein Sohn Medizin. Er wurde Mitglied der neugegründeten "Vereeniging van Psychoanalytici in Nederland" und arbeitete als Lehranalytiker und Dozent in Den Haag und Amsterdam und hielt Gastvorlesungen an der Universität Leyden.
Sein Sohn, Arthur fürchtete, dass auch die Niederlande vor den Nationalsozialisten nicht sicher seien und ging nach Palästina. Später ließ er sich ebenfalls in den USA nieder und wurde Diamantenhändler.
Der zweite prominente jüdische Flüchtling aus Deutschland war der Frankfurter Psychoanalytiker Karl Landauer. Heftige persönliche Spannungen zwischen ihm und Reik führten zu einem offenen Eklat, und Reik besuchte nun keine Sitzungen mehr (Fenichel 1998,
S.727).
Schwierigkeiten traten auch in der Behandlung einer Patientin, einer holländischen Psychiaterin, auf. Reik hatte in der Behandlung eine entwertende Bemerkung über die Den Haager Bürger gemacht, auf die die Patientin sehr verärgert reagiert hatte; sie wollte deshalb die Behandlung abbrechen (Swerdloff 1965, 1/S.15). Beide suchten Freud als Schiedsrichter auf. Nachdem Freud sich vergewissert hatte, dass Reik keine Affäre mit ihr gehabt hatte, forderte er in Gegenwart der Patientin, eine Entschuldigung von ihm, dass er das Land, das ihn aufgenommen hatte, kritisiert hatte (Swerdloff 1965, 1/S.7; und Eissler 1954, S.17f). Reik folgte der Aufforderung, und in späteren Jahren verkehrte er freundschaftlich mit seiner ehemaligen Patientin.
Erneute Flucht in neuer Familienkonstellation
Reiks geliebte Frau Ella, die ihm auch als intellektuelle Partnerin und Hilfe bei der Fertigstellung seiner Manuskripte unentbehrlich war, musste bereits in Wien wegen ihres Herzleidens (Endocarditis lenta) häufig in ein Sanatorium. 1934 besuchten Theodor und Ella Reik ihren Sohn Arthur in Palästina. Bei ihrer Rückkehr starb Ella in Wien.
Theodor Reik heiratete Marija Cubelic (*20. Jan 1904; gest. Weihnachten 1959), mit der er bereits eine Tochter (Theodora - Irene) gezeugt hatte (geboren 1933). Im Gegensatz zu der ersten Ehe gab es häufig Streit. Erst als sie an Multipler Sklerose erkrankte, verbesserte sich die Beziehung.
Trotz aller Schwierigkeiten blieb Reik produktiv, und 1935 erschien seine Studie "Der überraschte Psychologe: über Erraten und Verstehen unbewusster Vorgänge".
1937 wurde Reik von einem ehemaligen Patienten, der im diplomatischen Dienst tätig war, dringend geraten, Holland zu verlassen. Der Patient besorgte ihm ein Einwanderungsvisum für die Vereinigten Staaten. Theodor Reik verabschiedete sich von Freud in Wien und floh dann mit seiner Familie über Prag und Neapel nach Alexandria und Kairo zu seinem Sohn. Dann emigrierten sie in die USA. Seine gesamten Ersparnisse, die er auf einer Wiener Bank zurückgelassen hatte, wurden enteignet, und er kam völlig mittellos an. In den USA war er, als Schüler Freuds und Autor der psychoanalytischen Studie „Ritual“ (1928) bereits bekannt. Die amerikanischen Kollegen fürchteten die Konkurrenz der prominenten europäischen Flüchtlinge. Sie boten Reik 200$ pro Monat an, wenn er keine Patienten behandelte. Reik lehnte das „Angebot“ ab. Abgesehen davon, dass er es als Kränkung empfand, wäre es wohl kaum möglich gewesen, eine vierköpfige Familie mit 200$ monatlich zu ernähren - denn am 22.Juli 1938 wurde seine zweite Tochter, Miriam, geboren (gest. 18. Januar 2009) (siehe „…aus meinem Stadttagebuch“). Seine Praxis füllte sich relativ schnell auch ohne die Hilfe seiner Kollegen (Swerdloff 1965, 2/S.56). Außerdem lehrte Reik am William Alanson White Psychoanalytic Institute in New York. 1941 erschien in New York „Masochism in modern man“. Das Buch gilt als sein bedeutendster theoretischer Beitrag zur klinischen Psychologie. Hier entwickelte er das Konzept des "sozialen Masochismus". Der soziale Masochismus wird verstanden als ein Versuch der Rehabilitierung von Selbstachtung und der Bewältigung von Angst durch eine “Flucht nach vorne”. So werden z.B. Gefühle von Trauer, Scham oder Verzweifelung in Fröhlichkeit, Indifferenz oder Souveränität umgedeutet. Reik schreibt von „Sieg durch Niederlage“.
Reik schafft die Grundlage zur Professionalisierung der Laienanalyse in den USA
In der New York Psychoanalytical Society wurden nur ärztliche Psychoanalytiker aufgenommen. Statt der Vollmitgliedschaft wurde Reik die „Ehrenmitgliedschaft“ verliehen. Das verbitterte ihn sehr. Er gründete eine Diskussionsrunde mit Studenten und Kollegen, unter ihnen auch der Testpsychologe Bruno Klopfer, in der, nach dem Muster der Freudschen Zusammenkünfte, Kaffee und Kuchen von seiner Frau gereicht wurden. Reiks Interesse war es, „die Analyse in ihren nicht-therapeutischen Aufgaben einem weiten Kreis von Psychologen, Erziehern und Vertretern anderer Wissenschaften nahezubringen (23. Mai 1940) (zit. nach Fenichel 1998, S.1312). Die erste öffentliche Veranstaltung dieser „Society für Psychoanalytic Psychology“, wurde am 21. Oktober 1940 abgehalten. Sie war die Keimzelle der, 1948/1949 gegründeten, „National Psychoanalytical Association for Psychoanalysis“ (NPAP). Reik blieb bis zu seinem Lebensende ihr Präsident. Ein Jahr später wurde das ‚Theodor Reik Clinical Center for Psychotherapy (TRCC)‘ gegründet, eine Einrichtung, in der Patienten mit geringem Einkommen, in einem modifizierten Setting behandelt wurden.
In seiner 1945 erschienen Publikation „Psychology of Sex Relations" wandte sich Reik von der Libidotheorie ab und verstand sich nun als "Neo-Psychoanalytiker". Als Theoretiker der Psychoanalyse fühlte er sich der Ich-Psychologie Heinz Hartmanns und Anna Freuds am meisten verbunden.
Als Pionierleistung der Erforschung der inneren Vorgänge des Psychoanalytikers in der psychoanalytischen Behandlung gilt seine Monographie „Listening with the Third Ear. The Inner Experience of a Psychoanalyst“ (1949), die zum Teil eine revidierte Neufassung seines Buches von 1935 darstellt. 1952 gab Reik die Zeitschrift Psychoanalysis heraus.
1959 starb Marija Cubelic .Die letzten fünf Jahre hatte sie in einem Heim verbracht. Im gleichen Jahr erlitt Theodor Reik einen Herzanfall.
Reik hatte eine Professur in Long Island, an der Adelphi University. Den Namen der Universität vergaß er immer wieder und musste feststellen, dass er an „Adolf“ Hitler denken musste und den Gedanken verdrängte. Als er 1962 Wien besuchte, war ihm seine Heimatstadt fremd. Die Ermordung seiner beiden Brüder lastet schwer auf ihm.
In jungen Jahren war Theodor Reik immer glatt rasiert gewesen. In den späten 60ern ließ er sich einen Bart wachsen. Damit begann er, in bemerkenswerter Weise Sigmund Freud zu ähneln, von dessen theoretischen Positionen er sich gleichzeitig entfernte. Freud kommentierte diese Ambivalenz, die sich nicht nur auf die Unterschiede in ihren theoretischen Anschauungen bezog, im Zusammenhang mit Reiks Bitte um ein Gutachten: “Wenn ich an Sie denke, streiten sich bei mir Sympathie und Ärger.- Ich könnte mich in England wohlfühlen, wenn ich nicht durch alle möglichen Anforderungen unausgesetzt an meine Ohnmacht, anderen zu helfen, gemahnt würde.“(3.7.1938, zit. nach Molnar 1996, S.330).
Reik wies den Vorwurf mangelnder Wissenschaftlichkeit, der der Psychoanalyse immer wieder gemacht wurde, heftig zurück und bestand auf der Gültigkeit der Gesetze zwischenmenschlicher Dynamik, die sich nicht von denen der Physik oder Chemie unterschieden. Aus einem unbewussten Duett zwischen Analytiker und Analysand erwachsen, zur Überraschung von beiden, die wichtigsten Erkenntnisse (Whitman 1970).
Theodor Reik hat knapp 300 Publikationen vorgelegt.
LITERATUR:
Eissler, K. (1954): Image 2 of Sigmund Freud Papers: Interviews and Recollections, 1914-1998; Set A, 1914-1998; Interviews and; Reik, Theodor, 1954; Mar. Onlineveröffentlichung: https://www.loc.gov/resource/mss39990.12104/?sp=1.
Fenichel, O. (1998): 119 Rundbriefe (1934-1945): Band I: Europa (1934-1938). Band II: Amerika (1938-1945) Mühlleitner, E. u. Reichmayr J.(Hrsg.) Stroemfeld /Roter Stern. Basel/ Frankfurt a. M.
Freud, S. (1926/1987): Gesammelte Werke, Nachtragsband (715–716). Frankfurt am Main.
Gay, P. (1989): Freud. Eine Biographie für unsere Zeit. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main.
Lexikon deutsch-jüdischer Autoren (1992 bis 2013): Bd 18 Phil – Samu. Redaktionelle Leitung: Heuer R. Archiv Bibliographia Archiv Bibliographia Judaica e.V. ( Hg.) (207-222). De Gruyter.
Lockot, R. (Hg.) (1995): Paula Heiman im Gespräch mit Marlinde Krebs. Luzifer-Amor, 8. Jg., H. 16: 134-160.
Molnar, M. (Hg.)(1996): Sigmund Freud. Tagebuch 1919 – 1939. Kürzeste Chronik. Stroemfeld /Roter Stern. Basel/ Frankfurt a. M.
Mühlleitner, E. (1992): Biographisches Lexikon der Psychoanalyse. Die Mitglieder der psychoanalytischen Mittwochgesellschaft und der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung 1902 – 1938. In: Biographisches Lexikon der Psychoanalyse, Tübingen.
Müller, T. (2003): Deutsche Biographie. Theodor Reik. S. 331-332. https://www.deutsche-biographie.de/sfz105014.html.
Peters, U. H.(1992): Psychiatrie im Exil. Die Emigration der Dynamischen Psychiatrie aus Deutschland 1933 – 1939. Düsseldorf.
Reik, T. (1976): Dreißig Jahre mit Sigmund Freud. Kindler Verlag, München
Rolnik, E. J. (Hrsg.) (2005): Paula Heimann. "... wie geht es zu, daß ich alles so anders sehe ...?" Ein Brief zur psychoanalytischen Technik an Theodor Reik (Berlin, 7. Februar 1933). In: Luzifer-Amor, Heft 36, 18. Jg. S. 7–15.
Schröter, M. (2003): Hinweis auf zwei Briefe Freuds (1924/1925) an Arnold Durig, den „Unparteiischen“ in der „Frage der Laienanalyse“. In: Werkblatt 51, H 2 /20. Jhg. S.121 – 126.
Schröter, M. (2005): Notiz zur Technik-Debatte zwischen Reich/Fenichel und Theodor Reik (1932–1936). In: Luzifer-Amor, Heft 36, 18. Jg. S. 16–22.
Steiner, R. (2000): 'It is a New Kind of Diaspora'. Explorations in the Sociopolitical and Cultural Context of Psychoanalysis. Karnak, London.
Swerdloff, B. (1965): Columbia –Interview vom 3.6.1965, 7.6.1965 und 17.6.1965 (unver.)
Whitman, A. (1970): Dr. Theodor Reik, Freud Protege, Is Dead at 81. In: The New York Times, 1. Jan. 1970. https://www.nytimes.com/1970/01/01/archives/dr-theodor-reik-freud-protege-is-dead-at-81-analyst-was-stanch.html.
English Chronicle
1888 12th May: Theodor Reik is born in Vienna to Max Reik, a railway inspector, and Karoline Treibtisch. He has two much older brothers, Otto (+15 yrs) and Hugo (+17 yrs), both of whom join their father in his line of work. Reik’s maternal grandfather follows in the tradition of the Zealous Jews; from him, Reik learns Hebrew. With his father, who is an agnostic, Reik frequently debates questions of religion.
1892 His younger sister Margaret is born. She will eventually run Reik’s household during his old age in New York.
1907 Reik’s much-loved father dies of a heart attack. He begins to study psychology, German and French literature in Vienna.
1910 Reik’s mother dies. Makes contact with Sigmund Freud; Reik’s first encounter with Freudian theory had been through a review by his psychology lecturer, Prof. Jodl. At Freud’s express advice, he goes on to study medicine in order to prepare the ground for a career in psychoanalysis. Freud supports him financially over a number of years. Like Freud and Hitschman, Reik is a member of the Viennese B’nai Brith lodge.
1911 Becomes a member of the Viennese Psychoanalytic Association; Reik’s membership paper is Über Tod und Sexualität (‘On Death and Sexuality’).
1912 Obtains a grant to study in Paris, where he produces the first ever psychoanalytic doctoral thesis, on Flaubert’s temptation of St Anthony (‘Die Psychogenese von Flaubert’s Versuchung des Hl. Antonius’); with an introduction by Alfred Kerr. Until 1919, Reik makes use of psychoanalysis predominantly for the interpretation of literature, with works on Goethe, Richard Beer-Hoffmann, Arthur Schnitzler, Stefan Zweig, Guy de Maupassant and Alexander Dumas. In parallel, he writes some shorter papers on child psychology.
1914 Brief spell of editorial work for the ‘Internationaler Psychoanalytischer Verlag’
(International Psychoanalytic Publishing House). In February, moves to Berlin and work as a journalist.Is analysed by Karl Abraham free of charge; there are arguments between the two. Marries his
childhood sweetheart, Ella Oratsch. Their son, Arthur Reik, is born.
Jan 1915 – Oct 1918 During WW1, Reik serves in a Hungarian cavalry regiment and sees combat in Montenegro, Serbia and Italy. He is injured, although not seriously.
1915/16 For his study on Die Pubertätsriten der Wilden (‘The Puberty Rites of Savages’), Sigmund Freud awards Reik the first prize for a piece of work in applied psychoanalysis. Papers on the psychology of religion follow.
1918 Reik, like all other (male) analysts with the exception of Freud, attends the Budapest Congress in uniform. Takes over various functions in the Viennese Psychoanalytic Association, such as second secretary and librarian.Earns a living from German lessons Freud puts his way.
1919 Probleme der Religionspsychologie. I Teil: Das Ritual (‘Problems in the Psychology of Religion. Part 1: Rituals’) is published with an introduction by Freud. Reik and his “older brothers”, Hanns Sachs and Otto Rank, are referred to as “the psychoanalytic trio”.
1921 Establishes an international centre for psychoanalytic literature to facilitate scientific exchange. At Freud’s recommendation, he becomes its Director of Literature. Returns to Berlin for a year and is active within the Berlin Psychoanalytic Institute.
1923 Der eigene und der fremde Gott: zur Psychoanalyse der religiösen Entwicklung (‘One’s Own and the Alien God: On the Psychoanalysis of Religious Development’). On account of offering a curative treatment, namely psychoanalysis, while not medically qualified, Reik is sued for quackery by a former patient. The charge prompts Freud to write The Question of Lay Analysis (1926), which proves enormously controversial within the International Psychoanalytic Association. Lay analysis is declared illegal in America. Reik produces a number of criminological works; thus Geständniszwang und Strafbedürfnis: Probleme der Psychoanalyse und Kriminologie (The Compulsion to Confess, 1925).
1927 The charges against Reik are dismissed.
1928 Since Prussia retains ‘Kurierfreiheit’ (‘the freedom to cure’), whereby the provision of therapeutic treatments is not restricted to physicians, Reik returns to Berlin. Acts as Training analyst and teaches at the Berlin PsychoanalyticInstitute.
1932 Takes his leave from the Berlin Psychoanalytic Institute.
1933 After a brief stopover in Vienna, where, on walks with Freud, he discusses patients as well as important decisions in his own life, Reik moves to The Hague in Holland. Becomes a member of the newly founded ‘Vereeniging van Psychoanaltyici in Nederland’ and one of its training analysts.Teaches in The Hague, in Amsterdam and, as guest lecturer, at the University of Leyden.Theodora Irene Reik is born to Marija Cubelic, who later is to become Reik’s second wife.
1934 After a long illness, Ella Reik (née Oratsch) dies of a heart condition.Arthur Reik emigrates to Palestine, then to the US, where he goes into the diamond trade (November 1988). Reik marries Marija Cubelic.
1935 Surprise and the Psychoanalyst: On the Conjecture and Comprehension of Unconscious Process.
1938 June: Reik emigrates to New York. Miriam Reik is born.The New York Psychoanalytic Society
receives Reik, a lay analyst, only reluctantly. He is not granted full membership, but permitted to become an ‘honorary member’. Competition from Reik - and lay analysis - is so feared, he is
offered money not to treat patients. It is an offer Reik rejects.Organises a private workshop for psychoanalytic psychologists. Is appointed professor. Neither of Reik’s older brothers manages to
escape Austria; both are murdered in concentration camps.
1940 Masochism and Modern Man is seen as Reik’s most significant theoretical contribution to clinical psychology. It contains the development of his concept of ‘social masochism’.
1945 With A Psychologist Looks at Love, Reik turns away from libido theory. He now sees himself as a ‘Neo-analyst’.
1948/1949 Founds the National Psychological Association for Psychoanalysis (NPAP), which includes
non-medical practitioners; its clinic bears Reik’s name. Listening with the Thirds Ear. The Inner Experience of a Psychoanalyst is to become the most widely read of Reik’s
books.
1959 Marija Reik (née Cubelic) dies of multiple sclerosis, having spent the last 5 years of her
life in a nursing home.
1969 31st December: Reik dies in new York.
He had authored nearly 300 works.
(Translated by Beate Schumacher)
Der National Psychological Association for Psychoanalysis danke ich für die Überlassung der Bilder 2 u.3.
Für die Überlassung des Bildes vom IPV-Kongress 1934 Luzern (Nr. 4, Tim N. Gidal) danke ich dem Jüdischen Museum Wien.
Stadtplan
Gedenktafel:
Adresse: Reichenhaller Str. 1, 14199 Berlin
Sponsoren dieser Tafel: Veronika Füchtner und Psychoanalytiker des DPG-Instituts am BIPP
Datum der Enthüllung: 29.05.2005
Anlass: Veranstaltungsangebot des Berliner Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie (BIPP)