(Bearbeitungsstand vom 16. Februar 2019)
Vom 25. Bis 27. September 1922 fand in der Kurfürstenstraße 115/116, im „Haus des jüdischen Brüdervereins gegenseitiger Unterstützung” der 7. Internationale Psychoanalytische Kongress der
Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) statt. Er war der letzte, an dem Sigmund Freud persönlich teilnahm.
Nach einer Blütezeit der Psychoanalyse im Berlin der 20er Jahre wurden ab 1933 alle jüdischen Psychoanalytiker durch die Nationalsozialisten aus Deutschland vertrieben. Die Deutsche
Psychoanalytische Gesellschaft musste 1938 aufgelöst werden. Zum Thema „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten in Psychoanalyse und Kultur heute” kamen zum ersten Mal nach dem 2. Weltkrieg
wieder Psychoanalytiker der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung nach Berlin, um hier vom 25. bis 29. Juli 2007 den 45. Internationalen Psychoanalytischen Kongress abzuhalten.
Bis zu seiner erzwungenen Emigration 1938, hing ein Gipsabdruck der „Gradiva” neben Sigmund Freuds Couch in Wien. Seine Interpretation der Gradiva-Novelle von Wilhelm Jensen ist die erste größere
psychoanalytische Untersuchung eines literarischen Werkes. Sigmund Freud fand in London Exil.
Dort starb er am 23. September 1939.
Juli 2007 Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft (DPG) & Deutsche Psychoanalytische Vereinigung (DPV)
Die Stele ist auf dem Mittelstreifen der Kurfürstenstraße, neben einem Fußgängerübergang errichtet. In einem Betonrahmen ist eine Kopie der Gradiva, mit Ausrichtung auf die, als Mahnort gestaltete, Bushaltestelle angebracht. Auf der Rückseite befindet sich eine Glastafel, die in deutscher und englischer Sprache über den Zusammenhang informiert.
Transite:
Die Besetzung von Orten geschieht in unserem Kopf – denn Orte haben kein eigenes Leben und die Besetzung eines Ortes mit einer „Aura“ überlasse ich Walter Benjamin.
Aber was geschieht denn da im eigenen Kopf.
Auf der Höhe der Kurfürstenstr. 115/116, auf dem Mittelstreifen steht eine kleine Stele. Es handelt sich um die Halbplastik der Naturgöttin, die Gradiva genannt wird.
Für Sigmund Freud war sie keine Unbekannte. Als er sie im Vatikanischen Museum sah, schrieb er an seine Frau Martha (am 24. 09. 1907):„Denk Dir nur meine Freude, als ich nach so langer Einsamkeit heute im Vatikan ein bekanntes liebes Gesicht sah; das Erkennen war aber einseitig, denn es war die Gradiva.“
Freud hatte die Gradiva durch den Schriftsteller Wilhelm Jensen kennengelernt, der eine Novelle zur Gradiva geschrieben hatte. In dieser Novelle geht es um das Spiel zwischen Phantasie und Wirklichkeit. Ein introvertierter junger Archäologe verliebt sich in das Abbild einer Patriziertochter aus Pompeji, wie er meint, in die „Gradiva“(die Voranschreitende). Er ist völlig in seiner Phantasie verfangen, die zum Wahn wird und er sucht nun die Gradiva in der Realität. Tatsächlich begegnet er einer „Gradiva“ aus Fleisch und Blut. Bis er realisiert, dass es sich um seine Kindheitsfreundin, die nun zu einer anziehenden jungen Frau geworden ist, handelt, bedarf es eines feinen Wechselspiels zwischen Kindheitserinnerungen und freundlichem Entgegenkommen der jungen Frau. Aus dem starren Wahngebilde entwickelt sich nun eine Liebebeziehung.
Freud griff diese Novelle auf, um zum ersten Mal die Psychoanalyse auf die Literatur anzuwenden. Sein Text ist so voller Wärme, Witz, aber auch Ironie, dass es ein Genuss ist, ihn zu lesen.
Es blieb aber nicht bei dieser geistigen Verbindung zwischen Literatur und Psychoanalyse, sondern Freud hängte eine Abbildung der Gradiva in sein Behandlungszimmer und so manch einen Analysanden wird sie zu Phantasien über Wahn und Wirklichkeit, Lebendigem und Totem und vielleicht auch über emotionale Versteinerung und emotionale Bewegung angeregt haben. Aber sie wurde auch Zeugin von Freuds Vertreibung aus seiner Wiener Heimat.
Aber warum steht sie an dieser Stelle in Berlin?
Die Gradiva steht dem Ort gegenüber an dem das ‚Haus des Jüdischen Brüdervereins für gegenseitige Unterstützung‘ einst gestand hat. In diesem Haus fand 1922 ein für die Psychoanalyse entscheidender internationaler Kongress statt, in dem ein breites Spektrum richtungweisender psychoanalytischer Themen aufgefächert wurde (Michael Schröter hat uns zu dem vertieften Verständnis dieses Kongresses verholfen. In PSYCHE, April 2007, 61. Jahrgang, Heft 4, pp 412-437. Volle Kraft voraus: Der 7. Internationale Psychoanalytische Kongreß in Berlin (25.–27. September 1922)
Es war der letzte, an dem Freud persönlich teilnahm.
Anlass der Errichtung der Gradiva in Berlin war der erste psychoanalytische Kongress in Berlin seit 1922, also nach 85 Jahren, im Juli 2007, der mit dem Thema Psychoanalyse und Kultur tagte. Damit ist aber die Verbindung von Ort und Figur noch nicht zu Ende erzählt – denn die Brücke zwischen 1922 und 2007 lässt sich nicht einfach über all das Dazwischenliegende schlagen.
1940 missbrauchte Eichmann das Haus des Brüdervereins als Deportationszentrale für Juden. Daran erinnert eine Bushaltestelle, als Mahnort von dem Künstler Ronnie Golz gestaltet (http://www.rgolz.de/d-busstop.html). Dieser Ort ist kontaminiert. Über seine Funktion als Bushaltestelle hinaus ist er zu einem Transit in eine andere Vorstellungswelt geworden.
Die Gradiva, die Freud ins Londoner Exil ‘begleitete‘ erinnert damit auch daran, dass Freud ebenso hätte deportiert werden können wie die vielen Tausenden, die von hier aus in den Tod geschickt wurden. Das ist eine bestürzend konkrete Vorstellung.
Die vielfache Besetzung des Ortes durch die Figur der Gradiva als Novelle, als psychoanalytische Übertragungsfigur, die allen Psychoanalytikern weltweit bekannt ist, als Gegengestalt Eichmanns und seiner nationalsozialistischen Verbrechen, wird damit zu einem Ort, der an die gemeinsame psychoanalytische Kultur erinnert - aber nicht ohne die zerstörerische NS-Vergangenheit auszublenden. Damit wird der Ort zu einem dialogischen Angebot, der zum Erinnern und Nachdenken einlädt.