Bearbeitungsstand vom 27.11. 2023
Nelly Wolffheim *29. März 1879 in Berlin, sie starb am 2. April 1965 in London.
Sie war die Begründerin des ersten psychoanalytischen Kindergartens in Berlin.
Gestärkt durch feministische Ideale, behindert von neurotischen und psychosomatischen Störungen, verhalfen ihr die Psychoanalysen bei Karl Abraham und Karen Horney zu neuer Lebensqualität.
Ausgebildet am Pestalozzi-Fröbel-Haus, gründete sie 1914 einen privaten Kindergarten, den sie seit 1922 im Sinne psychoanalytischer Pädagogik und jüdischer Tradition führte. 1930 gab sie den Kindergarten auf und schrieb Arbeiten zur Kinderpsychologie.
Seit 1934 bildete sie junge jüdische Frauen zur Vorbereitung auf ihre Emigration in ihrem Kindergärtnerinnen-Seminar aus.
Im März 1939 floh Nelly Wolffheim nach London und litt sehr unter den Bedingungen der Emigration. Nach dem Krieg schrieb sie unter anderem über Kinder im Konzentrationslager
und erarbeitete einen Index, in dem sie alle Bemerkungen Freuds zur Kinderpsychologie zusammenstellte.
Berliner Adressen der Familie Wolffheim
(nach dem Berliner Adressbuch)
Die Firmenadressen (Kurz- und Posamentierware Engr.) von Moritz Wolffheim befanden sich in
1876 Poststr. 26 (Nikolaiviertel)
1879 An der Spandauer Brücke 7
1882 Poststr. 26 (Nikolaiviertel) und der Potsdamer Str.113
1886 Alte Jacobstr. 77 und der Genthiner Str. 15
1888 Alte Jacobstr. 77 und der Genthiner Str. 15
1889 Genthinerstr 15 Vm. Firma: Max Herrmann& Co
Die Johann-Georg-Straße in Wilmersdorf hieß zunächst Straße 13. Sie wurde am 8.1.1892 nach dem brandenburgischen Kurfürsten Johann Georg (geb. 11.9.1525 in Cölln, gest. 8.1.1571 in Cölln) benannt.
1894 Spandauerstr.57 II, Genthinerstr 16, Institut f. Mechanische Teppichreinigung
1900- 1908 Nettelbeckstr. 21
1908 - 19013 Knesebeckstr. 67
1909 -1912 Nelly
Wolffheim in der Knesebeckstr. 67
1913 - 1916 Hedwig Wolffheim geb. Sommerfeld, Kaufmannswitwe und Frl. Nelly Wolffheim Schriftstellerin, Roscherstr. 9
1917-1932 Frl. Nelly Wolffheim Schriftstellerin (ab 1918 Kindergartenleiterin) Johann-Georg Str. 20
1933-1936 Nelly, Wolffheim Schriftstellerin Charlbg. Waitzstr. 16
1937-1939 Nelly, Wolffheim Seminarleiterin Waitzstr. 16
1936 - 1938 Die "Umschulungslehrgänge der Jüdischen Gemeinde zu Berlin für Erziehungsarbeit in jüdischen
Privathaushaltungen und Heimbetrieben", die Nelly Wolffheim durchführte, fanden in Charlottenburg, in der Wilmersdorferstr. 94 statt (Für diesen Hinweis danke ich Herrn Manfred
Berger).
Zur Biographie
Nelly Wolffheim stammte aus einer jüdischen Familie. Ihr Vater, Moritz Meyer Wolffheim, ein Kaufmann, wurde in Ełk (deutsch Lyck, ehem. Ostpreußen) am 23.03.1841 geboren. In Berlin-Mitte betrieb er zunächst, zusammen mit Louis Reinglaß, einen Engroshandel mit Kurz- und Posamentierware und Trikotagen. Wie viele erfolgreiche Kaufleute verlagerte sich sein Wohn- und Geschäftssitz mit wachsendem Wohlstand, so um 1900, immer mehr in den „modernen“ Westen der Stadt mit seinen neu entstehenden Wohnquartieren. Nun war er bis zu seinem Tod Inhaber eines ‚Instituts für Mechanische Teppichreinigung‘. Er war Diabetiker und starb, einige Tage nach einem Schlaganfall, am 23.11.1910 in Berlin. Moritz Wolffheim wurde auf dem Jüdischen Friedhof Schönhauser Allee begraben (Feld G-W3 Grab 203 Plot 22054).
Am 01.03.1876 heiratete Moritz Meyer Wolffheim Hedwig Sommerfeld (*2. Aug. 1856 in Berlin, gest. 27.04.1936 in Berlin). Die Ehe der Eltern war, nach Nelly Wolffheim, sehr harmonisch. Die Familie Sommerfeld war eine sehr angesehene alte jüdische Berliner Familie. Nach dem Tod von Nellys Großmutter, Sara Sophie Sommerfeld (geb. Meyer, 19.03.1824, gest. 06.03.1900), wurde die jüdische Tradition allerdings nicht mehr gepflegt. Hedwig Wolffheim litt nach einem schweren Gelenkrheumatismus an Herzbeschwerden. Sie starb kurz vor ihrem 80. Geburtstag am „Herzschlag“ (Wolffheim 1997, S.125) und wurde ebenfalls auf dem Jüdischen Friedhof Schönhauser Allee begraben (Feld G-W3 Grab 203 Plot 22685). Nellys Mutter hatte zu ihrer Mutter ein sehr enges Verhältnis und verbrachte jeden Nachmittag bei ihr. Die Kinder wurden einem Kindermädchen überlassen (Wolffheim 1997, S. 125f.).
Das erste Kind von Moritz und Hedwig Wolffheim, Werner Joachim, geboren am 01.08.1877, soll ein besonders hübscher, intelligenter und musikalisch begabter Junge gewesen sein und war der uneingeschränkte Liebling der Familie.
Seine um zwei Jahre jüngere Schwester, Nelly, liebte ihren Bruder sehr, war aber zugleich schrecklich eifersüchtig und voller aussichtsloser Konkurrenz – denn es gab kein Gebiet, in dem sie die Überlegene hätte sein können – weder in der Schule noch beim Klavierspiel (Wolffheim 1997, S.129). Sie erhoffte sich mit ihrer späteren Entscheidung, einen Frauenberuf zu ergreifen, eine Unabhängigkeit von der Konkurrenz zu ihrem Bruder.
Eine "schwer neurotische Mutter" und ihr „Schattenkind“
Nelly Wolffheims Mutter war eine schwer neurotische Frau, die ihre Lebensführung hypochondrisch ihrer „Nervosität“ und ihren Angstsymptomen unterordnete. Zusätzlich kreisten bei den Mahlzeiten viele Gespräche um die richtige Ernährung von Nellys diabeteskrankem Vater. Nelly soll ein „schwächliches“ Kind gewesen sein und deshalb wurden ihr Stärkungsmittel wie Ungarwein und dunkles Bier verordnet (Wolffheim 1997, S.126 f.). Die Atmosphäre im Haus scheint von dauernder großer Anspannung und Fixierung auf körperliche Vorgänge geprägt gewesen zu sein. Selbst Nellys Verdauung wurde von der Mutter durch Einläufe und Abführmittel kontrolliert. Verdauungsbeschwerden waren die Folge (Kerl-Wienecke 2000, S.28).
Nelly schielte. Als sie 5 Jahre alt war, wurde ihr Auge operiert. Nachdem sich nicht gleich eine Besserung eingestellt hatte, wurde das Schielen als „nervös“ bedingt und deshalb als nicht operabel diagnostiziert.
In der vierten Klasse begann eine Sehbehinderung, die sich über einen Zeitraum von ca. 10 Jahren hinziehen sollte. Sie fing mit einer Bindehautentzündung an. Dann konnte Nelly die Buchstaben nicht mehr erkennen und das weiße Papier blendete ihre Augen. Sie bekam nun eine graue Brille und fühlte sich sehr hässlich. Im Zuge ihrer Analyse entdeckte sie, dass sie ihre Sehbehinderung manipulieren konnte, indem sie beim Lesen die Buchstaben heranzog und wieder zum Verschwinden brachte.
Vor allem war Nellys Kindheit sehr durch einen „skrofulösen“ Hautausschlag belastet (Wolffheim 1997, S.127 f.). Hände und Teile des Gesichts mussten mit Salben und Verbänden abgedeckt werden. Bei der Begrüßung mit Handgeben empfand sie ein Zögern des Gegenübers angesichts der offensichtlichen Zerbrechlichkeit und der sichtbaren, aber verdeckten Verletzungen Nellys. Sie fühlte sich abgelehnt, hässlich und minderwertig (Kerl-Wienecke 2000, S.30).
Nelly war voller Angst: gefährliche Tiere, Einbrecher und Feuer schienen überall zu lauern. Angst vor Erblindung und davor, geisteskrank zu werden, kamen dazu.
In der Schule galt Nelly eigentlich als geselliges Kind – nur litt sie unter antisemitischen Hänseleien. Ihr Vater beauftragte ihren Bruder, sie zu unterstützen und auch eine Lehrerin wies eine stichelnde Mitschülerin zurecht. Die Situation entspannte sich.
Trotzdem konnte Nelly nicht ihren Platz in der Klassengemeinschaft finden, denn es stellte sich eine Lähmung der Beine ein. Nun war es ihr auch nicht mehr möglich, überhaupt zur Schule zu gehen. Sie verbrachte die Tage im Bett in einem abgedunkelten Zimmer. Lesen, Zeichnen, und Handarbeiten waren ihr verboten und nun galt sie auch noch als dumm und fühlte sich ungeliebt (Kerl-Wienecke 2000, S.30f).
Das eigentliche Leiden von Nelly Wolffheim bestand aber wohl darin, dass sie mit ihren körperlichen Gebrechen um die Aufmerksamkeit ihrer Mutter werben musste, welche sie ihr nur als krankes Kind geben konnte, nur dann war sie fürsorglich. Sie las ihr vor, machte häufig Einläufe, kremte Hände, Gesicht und Hals ein und verband sie. Auch ihre Mutter hatte unter Ängsten gelitten – benutzte nun aber das Leiden ihrer Tochter, um „damit zu protzen“ (Kerl-Wienecke 2000, S.31).
Nelly Wolffheim war aber nicht nur das depressive und emotional vernachlässigte Kind – sie konnte auch bewusst stören und provozieren. „Ich möchte es hier einschalten, dass ich es als Kind geliebt habe, Leute, die ich nicht leiden konnte durch lärmende Spiele zu stören und jetzt, wo ich selbst alt bin, weiß ich, dass so etwas einen rasend machen kann“ (Kerl-Wienecke 2000, S.31).
Beruflich war Nelly Wolffheims Vater sehr eingebunden – er leistete sich nur das Vergnügen gemeinsamer Sonntagsausflüge mit seinen Kindern. Die Mutter nahm nicht daran teil, da sie die Anstrengung fürchtete (Wolffheim 1997, S.125f).
Noch im hohen Alter wunderte sich Nelly Wolffheim über eine sehr frühe und kränkende Erinnerung an ihren Vater, die besonders tiefe Spuren hinterlassen habe, da sie sich auf die Zeit des Ödipuskomplexes beziehe. Eigentlich passe diese Erinnerung gar nicht zu ihrem Gefühl zu ihm. Sie habe auf seinem Knie gelegen und er habe sie auf ihr entblößtes Hinterteil geschlagen. In späteren Jahren sei es zwischen ihr und ihm zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen, da sie sich nicht, wie ihr Bruder, still angepasst habe. Trotzdem habe sie das Gefühl gehabt, dass ihr Vater sie mehr liebte als ihn (Wolffheim 1997 S.125). Das führte aber nicht dazu, dass sie sich dem männlichen Geschlecht gegenüber angenommen gefühlt hätte.
Die Sozialisation zum „Weibchen“ fing damals früh an. Auf einem Kinderfest, Nelly war ungefähr 6 Jahre alt, schenkten die Jungen den von ihnen auserkorenen Mädchen wunderbare Blumensträuße. Nelly blieb übrig. Um diese Scham zu kaschieren, wurde schnell der Portierssohn gerufen, der mit ein paar zusammen gerupften Gartenblumen Nelly „erlöste“. Mit 12 Jahren hatte ihre beste Freundin bereits einen Verehrer, der sie aus der Schule abholte und ihr die Mappe nach Hause trug (Wolffheim 1997, S.137).
Zwei Jahre später, als Nelly Wolffheim ihre Hauslehrerin und deren Kreis kennenlernte, Frauen, die in ihrer Ehe tief enttäuscht waren, Männer hassten und sich feministisch engagierten, kippte Nelly Wolffheims Gefühl, von Männern abgelehnt zu werden. Nun lehnte sie Männer ab (Wolffheim 1997, S.139).
Eigentlich blieb aber in ihr die Überzeugung bestehen, dass, wenn jemand sie heiraten würde, das nur wegen ihres, durch Heirat sehr reich gewordenen Bruders, der sie möglicherweise mit einer großzügigen Mitgift ausstatten würde, geschähe. Wenn sich trotz allem ein ehrlicher Heiratskandidat finden würde, müsste er aber blind sein, damit er ihre Hässlichkeit nicht sehen könne und sie nicht eifersüchtig sein müsse (Wolffheim 1997, S.159).
Die Familie lebte zusammen in der Knesebeckstr. 67. Das war auch die Adresse des ‚Instituts für mechanische Teppichreinigung‘, der Firma des Vaters. Nelly Wolffheim war 31 Jahre alt als ihr Vater in der Folge eines Schlaganfalls (am 23.11.1910) starb. Nun versuchte sie ihre Mutter über seinen Tod hinwegzutrösten, indem sie seine Rolle einnahm und ihrer Mutter, wie er es getan hatte, Süßigkeiten oder Blumen mitbrachte. In ihrer Autobiografie erwähnt sie keine Trauer um ihn und deutet ihr Verhalten analytisch. Es habe sich um ihren unbewussten „Männlichkeitskomplex“ gehandelt (Wolffheim 1997, S.155 f). Nun richtete die Mutter ihre Aufmerksamkeit völlig auf Nelly und reagierte eifersüchtig auf ihren Beruf und ihre Freundschaften, die sie ja von der Mutter trennten.
Nelly schreibt, dass sie nicht den Mut gehabt habe, ihrer Mutter ein eigenständiges, von ihr getrenntes, Leben vorzuschlagen, was sie eigentlich für gesünder gehalten habe.
In ihrer nachträglichen Reflexion sieht sie, in ihrer Unwilligkeit zu heiraten, ihren eigenen „Männlichkeitskomplex“, überdeckt von einem „Gemisch von Frühreife des Denkens“ und einer „erstaunlichen Unwissenheit auf Gebieten des realen Lebens“, Sexualität eingeschlossen. Eigentlich wäre sie sehr gern ein Junge gewesen, hatte sich die Hosen ihres Bruders ausgeborgt, fuhr gern auf seinem Dreirad und wählte, z.B. bei Maskenbällen, immer die Hosenrollen (Wolffheim 1997, S.140).
Nachdem Werner Joachim Wolffheim 1906 zum Dr. jur. promoviert wurde, war er an der Berliner Handelskammer tätig. Ab 1914 verstand er sich als Musikschriftsteller. Werner Wolffheim heiratete 1907 Betty Victoria Manheimer, geb. Jacoby (03.01.1859 -13.11.1943), die sehr wohlhabende Witwe von Ferdinand Manheimer und Mutter seines (gleichaltrigen) guten Bekannten, des Germanisten Prof. Dr. Victor Manheimer. Sie war 18 Jahre älter als Werner Wolffheim. Victor Manheimer galt als literarisch-kultureller Mittelpunkt der Münchner Bohème. Er nahm sich 1942 in Amsterdam, angesichts seiner bevorstehenden Deportation durch die Nationalsozialisten, das Leben (https://de.wikipedia.org/wiki/Victor_Manheimer).
Werner Wolffheim besaß eine der weltweit kostbarsten und bedeutendsten Musikbibliotheken. Bekannt wurde er besonders durch seine Bachforschung. In der Jagowstraße 12 im Grunewald, (heute Richard-Strauss-Straße 12, Ecke Lassenstraße) ließ er sich 1911 eine stattliche Villa bauen.
Nelly Wolffheim hatte große Probleme mit ihrer Schwägerin, deren Lebensstil und Weltanschauung sie aus der Überlegenheit durch ihren Reichtum ableiteten. Betty Victoria Wolffheim spielte die „Grande Dame“ und dominierte Nellys Bruder, der sich ihr anpasste. Nelly Wolffheim empörte es auch, dass sie wertend und bestimmend in ihr Leben eingriff und es beschämte sie, dass sie sich dagegen nicht zur Wehr setzen konnte (Wolffheim 1997, S.157).
Ab 1920 veränderte sich Werner Wolffheims Leben radikal. Er gab seine Villa auf, lebte feudal im Hotel Adlon, dem teuersten Haus in Berlin, und versteigerte im Juni 1928 und im Juni 1929 seine kostbare Bibliothek. Die versprochene finanzielle Unterstützung für seine Schwester überging er und als sie den Portier des Hotels bat, sie als Deutschlehrerin den ausländischen Gästen zu empfehlen, verbot er ihr ihre Akquise - ebenso wie den Vertrieb selbstgefertigter kunstgewerblicher Objekte in Geschäften und den Verkauf einer wertvollen Kommode. Nelly Wolffheim war in finanzieller Not und musste einen Unterstützungsverein um einen Zuschuss bitten. Sie schämte sich ihres Bruders. Nichtsdestotrotz war seine Adresse im Jahrbuch der Gesellschaft der Bibliophilen, Band 18 (1927) die Johann-Georg Str. 20, in der seit 1917 Nelly und ihre Mutter lebten.
Werner Wolffheim war herzleidend (Wolffheim 1997, S.125). In seinen letzten Lebensmonaten schien er sich von seiner Frau etwas distanziert zu haben und die Geschwister waren sich wieder näher. Obwohl Nelly Wolffheim bereits seit 1905 zu pädagogischen Themen publiziert hatte und 1912 sogar als „Schriftstellerin“ im Berliner Adressbuch verzeichnet war, nahm ihre Familie keine Notiz von ihren Arbeiten. Erst später erfuhr sie, dass Werner Wolffheim seinen Freunden erzählt hatte, wie stolz er auf seine kleine Schwester war. Er starb plötzlich am 26. Oktober 1930 und wurde auf dem Südwestkirchhof Stahnsdorf beerdigt. Seine Frau überlebte ihn um 13 Jahre (https://de.wikipedia.org/wiki/Werner_Wolffheim).
Eine Familientragödie und ihre Folgen
Bei Beginn der Pubertät, mit ca. 11 Jahren, entwickelte Nelly Wolffheim eine Zwangsstörung mit schweren Schuldgefühlen. Sie weinte so laut bis jemand kam, um sie zu trösten, dann musste sie darauf bestehen, dass ihre Mutter oder eins der Dienstmädchen ihr für imaginäre Taten verzieh (Kerl-Wienecke 2000, S.32 f). Abends meinte sie von ihren Angehörigen Abschied nehmen zu müssen, da sie fürchtete, die Nacht nicht zu überleben. Über ihre Suizid-Fantasien schwieg sie allerdings (Wolffheim 1997, S.133).
Es ist naheliegend, dass diese Symptomatik in Zusammenhang mit der Tragödie, die ihre Familie erschütterte, zusammenhängt. Die beiden Brüder der Mutter, Sigmund Sommerfeld (9. November 1891, 40 Jahre alt) und Felix Sommerfeld (7. November 1891, 36 Jahre alt) nahmen sich gemeinsam das Leben, indem sie sich die Pulsadern öffneten und erschossen. Sigmund Sommerfeld lebte zwei Tage länger. Die Mutter schrie als ihr die Nachricht überbracht wurde, der Vater weinte.
Nelly bezog die Reaktionen ihrer Eltern sofort auf sich und meinte, sie reagierten auf ihren Ungehorsam.
Dieser Doppelselbstmord erregte internationales Aufsehen. Selbst die New York Times berichtete davon (am 8.11.1891). Felix und Sigmund Sommerfeld waren die „Hofbankiers“, Inhaber der Wechselbank Hermann Friedländer & Sommerfeld mit mehreren repräsentativen Adressen. Sie hatten sich mit der Gründung der „Ostseebad Binz Aktiengesellschaft“ verspekuliert und Wertpapiere, die ihren internationalen Kunden gehörten, veruntreut. Die aufwendige Lebensführung der Brüder und nicht eingelöste Verbindlichkeiten anderer Banken führten zu einer Kettenreaktion und mündeten schließlich in den Konkurs der Gesellschaft. In Nellys Schule wurde diese Schande ausführlich diskutiert. Darunter litt sie und schämte sich so sehr, dass sie erst 30 Jahre später, in ihrer Analyse, darüber zu sprechen wagte (Wolffheim 1997, S.135). In antisemitischen Kreisen wurde dieser „Berliner Bankenskandal“ sofort ausgeschlachtet und als Beweis „jüdischer Begehrlichkeiten“ und „jüdischer Corruption“ angeprangert (Naumann 2021).
Nach dem Tod ihrer beiden Söhne zog die schwer traumatisierte Großmutter ins Haus der Familie Wolffheim. Nachts weinte, schrie und tobte sie und tags nahm sie die Aufmerksamkeit der Mutter völlig in Anspruch. Die Großmutter war aber auch "verwöhnt" und durfte nicht alleingelassen werden und wenn die Eltern abends ausgingen, musste Nelly ihr Gesellschaft leisten. Ihr Bruder blieb unbehelligt. Nelly hasste die Großmutter und empfand sich als das am wenigsten geliebte Enkelkind (Wolffheim 1997, S.136). Die Großmutter beherrschte die Familie. Sie nahm sogar am Tisch den Platz des Vaters, an der Stirnseite des Tisches ein (Wolffheim 1953, S.254).
Aufbruch in eine neue Welt
Nelly Wolffheim fehlte häufig in der Schule wegen ihrer fragilen Gesundheit und versäumte damit zu viel des Lernstoffs. Als sie 14 Jahre alt war, nahmen sie ihre Eltern, auf Rat des Arztes, ganz aus der Schule und sie bekam eine Privatlehrerin. Diese Lehrerin war psychisch zwar sehr labil, konnte aber ihrer Schülerin eine neue intellektuelle und emotionale Welt eröffnen, indem sie sie nicht nur unterrichtete, sondern auch in ihren Freundes- und Familienkreis aufnahm. Die Lehrerin lebte mit Mutter und Großmutter in einem Haushalt. Sie pflegten eine lebendige Geselligkeit mit einer linkspolitischen Diskussionskultur und Offenheit gegenüber feministischen Themen. In dieser neuen fördernden Umgebung, frei von der Rivalität zu ihrem Bruder und dem einengenden Regelwerk ihrer häuslichen Umgebung, blühte Nelly Wolffheim auf. Ihr Augenleiden verbesserte sich und sie begann viel zu lesen (Wolffheim 1997, S.139). Sie wollte durch einen eigenen Beruf ein selbstbestimmtes Leben führen. Für eine „höhere Tochter“ war das ein höchst ungewöhnliches Anliegen: „Ich erklärte meinem ziemlich entsetzten Vater, ich wollte Kindergärtnerin werden, um geldlich unabhängig zu sein, um nicht später eine Vernunftehe eingehen zu müsse“ (Wolffheim 1997, S. 140). Verwandte und Bekannte munkelten bereits von einem bevorstehenden Bankrott, ihres Vaters, der wohl seine Familie nicht mehr ernähren könne (Kerl-Wienecke 2000, S.35). Aber Nelly Wolffheim blieb unbeirrt und meldete sich ganz selbstständig, 1896, mit 17 Jahren am Pestalozzi-Fröbel-Haus zur Kindergärtnerinnenausbildung an. Sie wollte Pädagogin und Kinderpsychologin werden, um Kinder darin zu unterstützen, ein erfüllteres und froheres Leben zu führen als es ihr selber möglich gewesen war. Aber sie sorgte sich auch um die Eltern und gab Kurse, um ihnen dabei zu helfen, ihre Kinder besser zu verstehen (Wolffheim 1997, S.125). Ihre Mutter interessierte sich nicht für ihren selbstbestimmten Berufsweg.
In ihrer eigenen Art gelang es Nelly Wolffheim auch in der Schule auf sich aufmerksam zu machen. Nach dem Aufnahmeexamen, wurde sie in die Abteilung A, der intelligentesten Schülerinnen eingeteilt. Daraufhin bat sie die Vorsteherin, sie in die Abteilung B, der leistungsschwächeren zu versetzen, da sie sich den erwarteten Anforderungen nicht gewachsen fühle. Dieser Bitte wurde nicht entsprochen und sie wurde eine sehr gute Schülerin (Wolffheim 1997, S.141 f).
Nelly Wolffheim entwickelte zu einer sehr umschwärmten Lehrerin eine ganz besondere Beziehung, die die Lehrerin erwiderte. Diese homoerotische Verbindung wurde von der Lehrerin abrupt beendet. Das war der Anfang „in einer Reihe von Enttäuschungen in meinem Leben; immer wurde ich enttäuscht, nachdem man mich zu sich herangezogen hatte und dann aber fallen ließ“ (Kerl-Wienecke 2000, S. 41f). Lesbische Beziehungen waren für Nelly Wolffheim in keiner Weise abstoßend.
Die schwierige Praxis
Das soziale Umfeld ihrer ersten Anstellung im Jüdischen Kinderhort in der Keibelstr. 40, Prenzlauer Berg, der damaligen Berliner Innenstadt, stand in völligem Gegensatz zu dem ihr vertrauten Umfeld des Pestalozzi-Fröbel-Hauses im modernen Berliner Westen. Nelly Wolffheim fehlte es an Durchsetzungsvermögen und alles ging drunter und drüber. Schließlich fürchtete sie sich so sehr vor ihrer Arbeit, dass die Magenkrämpfe wieder einsetzten und sie sich von der Aufwartefrau aus der Kneipe Kognak, das übliche Mittel gegen Magenkrämpfe, holen lassen musste (Wolffheim 1997, S.144). Sie gab die Arbeit auf und nachdem sie sich etwas davon erholt hatte, nahm sie eine unbezahlte Tätigkeit in einem Kindergarten des Pestalozzi-Fröbel-Hauses an. Mit kleineren Gruppen fühlte sie sich am wohlsten, weil sie sich dann mit den Kindern identifizieren konnte. Vor allem fühlte sie sich von unglücklichen und traurigen Kindern angezogen. Nun wurde Nelly Wolffheim geschätzt. Nach einem Jahr musste sie diese befriedigende Tätigkeit wieder aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Auslösend dafür war der Tod ihrer Großmutter, die am 06.03.1900 starb. Bei ihrer Beerdigung erkältete sich Nelly schwer. In der Folge stellte sich eine unüberwindliche Gehstörung ein. Sie konnte nur noch liegen. Doch plötzlich überkam sie der Zwang aufzuspringen und im Kreis herumzulaufen – was ihr auch mühelos gelang, um dann wieder auf dem Sofa zusammenzubrechen (Wolffheim 1997, S.145). Ihre Mutter pflegte sie aufopfernd. Als sich ihr Zustand etwas gebessert hatte, fuhr sie mit ihrer Mutter nach Bad Gastein zur Kur. Im Gedränge des Bahnhofs erlitt die Mutter einen Anfall von Platzangst und Nelly konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Der Kurarzt diagnostizierte eine Rückenmarksschädigung und verordnete, dass Nelly nur im Rollstuhl gefahren werden dürfe. Nun identifizierte sich Nelly mit dieser Diagnose und die Gehbehinderung verschlimmerte sich (Wolffheim 1997, S.147).
In ihrer späteren Analyse versuchte Nelly Wolffheim ihre Gehstörung zu verstehen.
Sie wünschte ihrer Großmutter den Tod, da sie meinte erst dann frei sein zu können, wenn die gehasste Frau nicht mehr lebe. Als sie im Sterben lag, fürchtete Nelly, dass sie wieder zu sich kommen könne. Schuldgefühle waren die Folge. In ihrer Selbstanalyse fand Nelly Wolffheim später heraus, dass sie in masochistischer Selbstbestrafung unbewusst verhinderte, dass sie ihrer Berufstätigkeit als Kindergärtnerin, die ihr endlich Selbstwert durch Anerkennung verlieh, weiter nachgehen konnte (Wolffheim 1997, S.146).
Nelly Wolffheim als ihre eigene Lieblingspatientin auf den Bühnen der Sanatorien
Wie viel Lebenskraft, Lebenszeit und Aufmerksamkeit Nelly Wolffheim auf ihre zum Teil skurril anmutende Krankengeschichte richtet, könnte einen mit Bedauern und Mitgefühl erfüllen. Aber wir haben es hier nicht nur mit dem „Opfer“ einer neurotischen Mutter zu tun, sondern mit einer redlichen Forscherin, die klug und scharfsinnig diese heranwachsende junge Frau (die sie selber ist) mit analytischem Blick beobachtet und ihr Wesen zu erfassen versucht.
Zurück in Berlin wurde der bekannte Nervenarzt, Hermann Oppenheim, konsultiert, mit dem Nelly, ohne ihre Eltern, ein sehr anregendes Gespräch führte. Er bat Nelly, ihre Kindheitsgeschichte aufzuschreiben, da er sie in einem Buch verwenden wolle. Kaum bemerkte die Mutter, dass Nelly im Mittelpunkt des ärztlichen Interesses stand, holte sie den Bruder mit den Worten: „Damit Sie sehen, dass ich auch ein gesundes Kind habe“ (Wolffheim 1997, S.148). Nelly war sehr gekränkt.
Hermann Oppenheim war auch in späteren Jahren immer wieder der Arzt, an den sich Nelly ratsuchend wandte.
Oppenheim hatte Sigmund Freud bei dessen Berlinbesuch bereits im März 1886 persönlich, kennengelernt. Freud kam von seinem Studienaufenthalt bei Charcot, von dem Oppenheim allerdings nichts hielt. Die Psychoanalyse gab es damals noch nicht. Später, als sich Karl Abraham als erster Psychoanalytiker in Berlin niederließ, unterstützte Oppenheim ihn durch die Überweisung von Patienten, da seine Frau Martha eine Cousine von Karl Abraham war. Hermann Oppenheim selbst stand der Psychoanalyse ambivalent gegenüber (Pech 2006, S.75). In den folgenden Jahren, noch zu Oppenheims Lebzeiten, verbrachten bekannte Psychoanalytiker wie Max Eitingon (1909), Bernhard Berliner (1910) und Karen Horney (1912) ihre Assistentenzeit in Oppenheims Poliklinik.
Hermann Oppenheim empfahl Nelly eine Behandlung im Nervensanatorium in Groß-Lichterfelde („Kurhaus Lankwitz“). Im „Berolinum“, dem Sanatorium für Gemüts- und Nervenkranke, das von den Ärzten James Fränkel, Albert Oliven und Isidor Loewenthal geleitet wurde, herrschte eine ungezwungen–persönliche Atmosphäre im Zusammenleben zwischen Patienten und Arztfamilien (Wolffheim 1997, S.148). Nelly Wolffheim trauerte sehr ihrer Arbeit mit den Kindergartenkindern nach und fand hier in vier Kindern zwischen 5 und 12 Jahren aus den Ärztefamilien einen schönen Ersatz. Sowohl mit Kindern als auch mit Patienten bastelte sie und entwickelte damit eine Art der Beschäftigungstherapie. Dr. Loewenthal, ihr behandelnder Arzt, versuchte sie erfolglos, mit Hypnose zu behandeln, auch Liegekuren blieben wirkungslos. Nur eine bestimmte Gehtechnik, bei der sie, wie beim Treppensteigen „stolzieren“ musste, half so weit, dass sie auch nach dem Klinikaufenthalt diese Bewegungsart beibehielt (Wolffheim 1997, S.150). Nelly Wolffheim verließ nur ungern das regressive Sanatoriumsklima, konsultierte aber weiterhin Dr. Loewenthal. Er verordnete ihr gegen ihre heftigen sexuellen Erregungszustände stundenlange Bäder und kam nicht auf die Idee, wie ihr Hausarzt (den sie danach empört gewechselt hatte), sie dazu zu ermutigen, doch einmal tanzen zu gehen (Wolffheim 1997, S.151).
Ängste plagten Nelly Wolffheim. So fürchtete sie bei dem verordneten Bad von der langjährigen freundlichen Köchin ermordet zu werden. Auf den Reisen mit ihrer Mutter in diverse Kurbäder stellten sich Magenkrämpfe, Blinddarmreizungen und Unterleibsbeschwerden ein und Nelly bekam eine Fülle diverser Medikamente wie Belladonna, Opium und Kokainzäpfchen. Sie hielt es für möglich, dass sie leicht kokainsüchtig gewesen sei (Wolffheim 1997, S.151).
Die diversen Behandlungsversuche wirken wie ein großes Theater. So wurde sie, von einer Krankenschwester begleitet, wenn sie zu dem Behandlungsinstitut gefahren wurde. Die Schwester hielt sie unterwegs am Mantelzipfel fest, damit ihr diese „nervöse Patientin“ nicht entwische; dann wurde sie die Treppen hinauf getragen und dort massiert, gebadet und elektrisiert. Dramatisch waren ihre Ängste vor dem Zahnarztbesuch und vor allem dem nötigen Bohren und so ließ sie sich lieber die Zähne ziehen, als sie plombieren zu lassen. Unterleibsuntersuchungen waren unmöglich, da sich sofort Vaginalkrämpfe einstellten und die Angst davor so unerträglich war, dass die Untersuchungen durch den After vorgenommen werden mussten.
Nelly Wolffheim berichtete von einem weiteren Sanatoriums Aufenthalt, und zwar im Waldsanatorium Zehlendorf-West, das Dr.med. Dr.phil. Simon Peter Ziegelroth und seiner Ehefrau Valerie als „Moderne Kuranstalt für diätetisch-physikalische Heilweise“ leiteten. Ziegelroth war ein prominenter Vertreter des „Lahmannschen Systems“, war Assistent des Direktors des Weißen Hirsch bei Dresden, Johann Heinrich Lahmann, gewesen und hatte zusammen mit ihm die Lichttherapie entwickelt. Er war Vorsitzender des 1897 gegründeten „Ärzteverein für physikalisch-diätische Therapie“, gab das ‚Archiv für Physikalisch-diätetische Therapie in der ärztlichen Praxis‘ heraus und gründete die Sanatorien in Bad Birkenwerder und in Krummhübel/ Karpacz. „Wasserkuren, Luft-, Licht-, Sonnen-, Sand-, Kasten- und elektr. Bäder, Lufthütten, Gymnastik u. Massage“ verbunden mit einer sorgsamen Diätkur und bei „strenger Individualisierung und methodischer Abhärtung“ erschienen nun als die Methoden der Wahl. Nelly Wolffheim war von dem neuen Ansatz beeindruckt – aber lehnte den „blinden Fanatismus“, von dem der Arzt erfüllt war, ab (Wolffheim 1997, S.153).
1904 suchte Nelly Wolffheim ein Sanatorium in der Nähe von Dresden auf. Vermutlich handelte es sich um die ‚Villa Sanitas‘, eine Heilanstalt für Nervenkranke, in Tharandt, die von dem königlich-sächsischen Sanitätsrat, Mitglied der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte, Dr. Haupt geleitet wurde, der auch mit seiner Familie in der Villa lebte. Dieses Sanatorium hatte sich Nelly Wolffheim ausgesucht, da das Prospekt mit den geselligen Abenden in der Familie des Arztes warb. Sie suchte also Familienanschluss. Aber gerade der wurde ihr verwehrt und sie blieb deprimiert und isoliert im Rollstuhl sitzend, verbannt in ihrem Zimmer und wurde nur zu den Untersuchungen ins Behandlungszimmer getragen (Wolffheim 1997, S.153). Grund dafür war der unverhohlene Antisemitismus, wie Nelly Wolffheim vermutete.
Die abendlichen Gehübungen mit dem Arzt waren roh, schmerzhaft und entwürdigend. „Es wurde immer 'erzogen' “. Als ihr geraten wurde, mindestens ein Jahr im Sanatorium zu bleiben, um gesund zu werden, vermutete sie hinter diesem Vorschlag eher geschäftliche Interessen und verließ den unfreundlichen Ort nach zwei Monaten (Wolffheim 1997, S.153). Trotzdem gewann Nelly eine wichtige Anregung aus diesem Sanatoriums Aufenthalt. Ein sehr intelligenter, aber schwer körperbehinderter junger Mann riet ihr, ihre Gedanken aufzuschreiben, da sie sich so klar ausdrücken könne. Auch hatte die antiregressive Behandlung ihren Trotz geweckt und sie folgte dem Rat des jungen Mannes. Ein Fachblatt nahm ihren Aufsatz an und daraus entwickelte sich eine anregende Diskussion (Wolffheim 1997, S.154).
Aber nur zwei Jahre später, 1907, lösten die Probleme, die die Hochzeit von Werner Wolffheim mit sich gebracht hatte, eine neue schwere Krise bei Nelly aus und eine weitere Odyssee durch diverse Kurorte begann. Sie endete wieder mit einer Konsultation bei Hermann Oppenheim – denn eine Mäusephobie war hinzugekommen, die Nelly das Reisen ohne Begleitung unmöglich machte. Oppenheim empfahl ihr Dr.med. Dr. phil. Leo Hirschlaff, der sich mit Hypnotismus und Suggestivtherapie einen Namen gemacht hatte. Nachdem seine Hypnoseversuche erfolglos geblieben waren, versuchte Hirschlaff sie vergeblich davon zu überzeugen, Abstand von ihrer Familie zu nehmen. Selbst seine manipulative Intervention schlug fehl. Er hatte nämlich eine Lungenerkrankung diagnostiziert, um sie zur Erholung nach Nizza zu schicken. Da andere konsultierte Ärzte keine Anzeichen einer Lungenerkrankung finden konnten, flog der Schwindel auf. Schließlich verordnete er ihr, eine aufziehbare Maus durch das Zimmer sausen zu lassen, – aber vor aufziehbaren Mäusen fürchtet sich Nelly nicht. Hirschlaff war gekränkt. Trotz allem half Nelly Wolffheim die Erfahrung von psychologischen Gesprächen und als Hirschlaff sie in die Berliner Psychologische Gesellschaft einführte, fühlte sie sich von ihm anerkannt und damit unterstützt. Zufällig fiel Nelly Wolffheim ein Zeitungsartikel über Freud und die Psychoanalyse in die Hände. Ihre Vermutung, dass Hirschlaff ähnlich wie Freud vorgehe, wurde von ihm entrüstet zurückgewiesen.
Ein eigener Kindergarten
Der Impuls, mit Kindern zu arbeiten, kam 1910 von einer Bekannten Nelly Wolffheims, die sie darum bat, ihren Kindern „Handfertigkeitsunterricht“ zu erteilen. Nelly Wolffheim erwies sich als kluge Beobachterin der Kinder, die ein Mal in der Woche zu ihr kamen. Sie entwickelte eine Art der Ergotherapie, ohne ihr Angebot als Therapie für neurotische Kinder zu verstehen. Vier Jahre später entstand ein privater Kindergarten (drei x wöchentlich, zwei Stunden). Sie legte den Fröbelschen Gedanken zugrunde, dass sich die Kinder wie in einer Familie fühlen sollten. Diese Selbständigkeit strengte Nelly Wolffheim so sehr an, dass sie an dem betreffenden Tag nichts anderes unternehmen konnte. Auch meinte sie, ohne die Unterstützung einer Helferin nicht arbeiten zu können. Nelly litt unter Depressionen. Wenn sie zu stark wurden, gab sie vor, zu einer Fortbildung fahren zu müssen.
Nelly Wolffheim arbeitete nicht nur intuitiv, sondern las viel und setzte sich mit den neu aufkommenden pädagogischen Strömungen auseinander. Außerdem legte sie besonderen Wert auf die Vermittlung jüdischer Tradition. So wurde z.B. Chanukka mit Geschenken und Spielen gefeiert (Berger 1992, S.316). Nachdem sie in einer schweren persönlichen Krise die Erfahrung einer eigenen Psychoanalyse gemacht hatte, bezog sie tiefenpsychologische Gesichtspunkte in ihre Arbeit ein. Mithilfe der Übertragung der familiären Situation sollten die Kinder im Kindergarten sich aus den einengenden Familienstrukturen lösen und durch analytisch geschulte Kindergärtnerinnen in einer fördernden, wertschätzenden Umgebung sich zu selbstbewussten, eigenständigen Persönlichkeiten entfalten. Wichtig sei es dabei, die Entwicklung des Kindes mit ihren phasenspezifischen Herausforderungen im Auge zu haben – z.B. die Dramen des Ödipuskomplexes, Geschwisterrivalitäten und die sexuelle Entwicklung (Wolffheim, 1930). Wichtig sei es auch, Aggressionen zu verstehen und integrieren zu lernen. Sie könnten symbolisch im Spiel bewältigt werden. Sublimierungen wurden anregt, um die Kraft der Aggression sozial einzubetten und nutzen zu lernen. „Als Schülerin Freuds“ befürwortete sie fundiertes „psychoanalytisches Wissen für den Pädagogen“, das sachgemäß erarbeitet werden müsse „nicht aber … durch herumnaschende Lektüre“ beliebig herausgepickt werden dürfe (Wolffheim, 1947/48 S. 398).
Nelly Wolffheims Kindergarten war deutschlandweit, der einzige, der nach den Gesichtspunkten der psychoanalytischen Pädagogik arbeitete. Auch Analytiker Kinder besuchten den Kindergarten; z.B. Melanie Kleins jüngster Sohn Eric und auch Müller-Braunschweigs Sohn Hans (Kerl-Wienecke, 2000, S.110). Die Kinderzahl vergrößerte sich und Hospitanten aus dem In- und Ausland interessierten sich für Nelly Wolffheim’s Konzept (Wolffheim 1997, S.162 f).
Aber wer könnte sich wohl für diesen sehr anspruchsvollen Erzieherberuf eignen?
Aus Nelly Wolffheims Überlegungen spricht eine tiefe persönliche Erfahrung: „Ein sensibler und dabei intelligenter Neurotiker weiß vielleicht mehr als der psychisch Robuste, wo die Schwierigkeiten der Kinder liegen; er erkennt manches, weiß vorzubeugen, wo der seelisch kräftiger geformte Erzieher oft nur wissensmäßige Erkenntnisse bereit hat. Auch wird der mehr normale Typ einem allzu sensiblen Kind nicht nur weniger Einfühlung entgegenbringen, er wird oft mit einer durchaus nicht immer bewussten Ablehnung der fremden Wesensart zu kämpfen haben.“ Da Nelly Wolffheim aber auch die mögliche Problematik „des Neurotikers“ reflektiert, empfiehlt sie, dass er sich einer Psychoanalyse unterziehen möge (Wolffheim, 1947/48 397f).
Eine obligatorische persönliche Psychoanalyse für Erziehende könne den Gefahren neurotischen Agierens durch Selbstreflexion entgegenwirken (Popp 1998, S.270).
1930 gab sie den Kindergarten auf, da sie sich zu alt für die Arbeit mit kleinen Kindern fühlte. Nun verstand sie sich ganz als Schriftstellerin. Vielleicht hatte der Tod ihres Bruders (1930) den Weg für sie in gewisser Weise „frei“ gemacht.
Psychoanalyse, der „richtige Weg“
Im Sommer 1921, nachdem eine enttäuschende Freundschaftsbeziehung bei Nelly Wolffheim eine schwere Depression ausgelöst hatte, befasste sie sich mit Freuds Traumdeutung. Diese neuen Gedanken faszinierten sie und sie wollte sich in Psychoanalyse begeben – gleichzeitig wurde sie tieftraurig, weil sie fürchtete, dass sie für eine Behandlung zu alt sein könnte. Trotzdem nahm sie Kontakt zu Karl Abraham auf.
Die erste Begegnung mit Abraham stimmt sie hoffnungsvoll, obwohl er ihr zunächst nur eine 6-wöchige Analyse anbieten konnte, da eine seiner Patienten verreist war. Nelly Wolffheim nahm das Angebot an und aus den 6 Wochen wurde ein Jahr (Kerl-Wienecke, 2000, S.89). Es war eine schwere Entscheidung, da sie neben ihrem Lebensunterhalt nun auch noch die Behandlungskosten aufbringen musste. Um Geld zu verdienen, gab sie Deutschunterricht, nahm Schreibmaschinenarbeiten an und fertige kleine kunstgewerbliche Objekte, die sie persönlich in entsprechenden Geschäften anbot. Da es zum damaligen Zeitpunkt bereits die psychoanalytische Poliklinik gab, in der auch unbemittelte Patienten behandelt wurden, verwundert es, dass Abraham Nelly Wolffheim nicht an die Poliklinik verwies und lädt zu der Vermutung ein, dass sie ihn für sich eingenommen hatte und er die Geldbeschaffung für die Analyse als sozialtherapeutischen, antiregressiven Teil der Behandlung einbezog. Nach einem Jahr schlug Abraham Wolffheim vor, die Behandlung nur noch nach Bedarf fortzusetzen. Damals herrschte die Auffassung, dass sich bei alten Menschen zu viel Material angesammelt habe, das nicht mehr zu analysieren sei. Auf Nelly Wolffheim’s Bitte, die Analyse in gewohnter Weise (d.h. wöchentäglich) fortzusetzen, lies sich Abraham schließlich ein (Kerl-Wienecke, 2000, S.89) und die Analyse dauerte vier weitere Jahre (Schoonheten 2020, S.515). Wolffheims Zustand verbesserte sich erheblich. Nun wechselten sich beglückende Gefühle mit schwer depressiven Zuständen ab. In den Behandlungsstunden erfüllte Abraham aber auch ihr großes wissenschaftliches Interesse an der Psychoanalyse durch theoretische Erklärungen.
Nelly Wolffheim durfte nach einem Jahr Analyse an dem IPV-Kongress von 1922 in Berlin teilnehmen und wurde zu Ausbildungskursen als Hörerin zugelassen. Zusammen mit Berta Bornstein und Otto Fenichel regte Nelly Wolffheim eine pädagogische Studiengruppe an. Berta Bornstein hatte sie kennengelernt als sie sie, auf der Suche nach einer Kindergartenhelferin, eingestellt hatte. Obwohl ihre Zusammenarbeit bereits nach wenigen Stunden beendet war, erhielten sie sich ein gutes Verhältnis.
Eigentlich wollte Nelly Wolffheim Kinderanalytikerin werden. Abraham unterstützte ihren Wunsch nicht. Er ermutigte sie vielmehr dazu, über ihre Erfahrungen in der pädagogischen Psychoanalyse zu schreiben - einem noch neuen Gebiet, auf dem sie bereits Pionierarbeit geleistet hatte. Trotz der Wertschätzung, die Abraham Wolffheims Arbeit entgegenbrachte, bedauerte sie, dass sich Pädagogen am Berliner Psychoanalytischen Institut, im Vergleich zu der „regen Arbeit in Wien“ „lange etwas zurückgesetzt“ fühlten (Wolffheim 1951, S.314).
Nelly Wolffheim fühlte sich in der psychoanalytischen Community angekommen: Sie nahm an der großen Freudgeburtstagsfeier im Hotel Esplanade, 1926, teil und war 1930 Berichterstatterin für mehrere Zeitschriften für den Dresdener psychoanalytischen Kongress.
Nelly Wolffheim war bis Sommer 1925 bei Karl Abraham in Analyse. Dann wurde er krank und unterbrach die Behandlung. Nelly Wolffheim ging zu Karen Horney, um Abrahams Abwesenheit zu überbrücken. Aber Abraham starb am 25. Dezember 1925. Nelly Wolffheim blieb bis zu Horneys Emigration in die USA, 1932, bei ihr in Analyse. Eine so positive Beziehung wie zu Abraham konnte sie zu Horney allerdings nicht entwickeln. „Von ‚Liebe‘, die doch in meiner Beziehung zu Dr. Abraham sicherlich mitgesprochen hat, war jedoch bewusst nichts zu spüren. Natürlich entstand Gebundenheit in dem jahrelangen ‚Zusammenarbeiten‘ – wie Karen Horney das Analysieren nannte“ (Wolffheim 1997, S.171). Außerdem war Karen Horney Christin und Nelly Wolffheim sagte ihr offen, dass sie sie nicht gewählt hätte, wenn sie das gewusst hätte (Kerl-Wienecke, 2000, S.90). Psychisch ging es Nelly Wolffheim sehr viel besser, aber die körperlichen Beschwerden hörten nicht auf. Venenentzündungen, Magen-Darmbeschwerden, starke Schmerzen im Bein und schließlich eine Operation am After zur Entfernung eines tief liegenden Furunkels beeinträchtigten Nelly Wolffheims Leben. Eine analytische Aufklärung konnte sie nicht finden. Tatsächlich verschwanden die Magenbeschwerden Jahre später, nachdem die Gallenblase entfernt worden war. Im sozialen Bereich öffnete sich Nelly Wolffheim einer bisher unbekannten Geselligkeit und der Freundschaft zu L.s, die ihre „Familie“ wurde. Vielleicht handelte es sich um „Littmann“, ein Tscheche, von dem Ilse Seglow erwähnte, dass er Nelly Wolffheims Freund war. Er lebte ebenfalls in England. Nelly Wolffheim war eine zutiefst dankbare Analysandin und empfand sich nun als psychisch ganz gesund (Wolffheim 1997, S.171).
Ihr Buch „Psychoanalyse und Kindergarten“ widmete sie Karl Abraham und schickte es am 23.09.1930 an Abrahams Witwe mit den Worten: „Als ich das Buch schrieb, war es mir eine Ermutigung, dass er es mir als Aufgabe hingestellt hatte, meine psychoanalytischen Studien nicht nur meiner Praxis dienstbar zu machen, sondern auch umgekehrt, meine Beobachtungen und Versuche in den Dienst der Psychoanalyse zu stellen. Es erfüllt mich mit Trauer, dass ich mein Buch meinem Analytiker und Lehrer nicht vorlegen kann.“ (zit. nach Zienert-Eilts 2013, S.334).
Das Buch wurde in mehrere Sprachen übersetzt und gilt als Nelly Wolffheims wichtigstes Werk.
,Neid und Dankbarkeit'
Abrahams prominente Analysandin, Melanie Klein, wandte sich auf Abrahams Rat hin an Nelly Wolffheim. Sie wollte in Nelly Wolffheim’s Kindergarten Kinder beobachten und möglicherweise analysieren. Nelly Wolffheim war ihr gegenüber ambivalent. Sie war beeindruckt von dieser hübschen, klugen und vor allem selbstsicheren junge Frau, die energisch und unbeirrbar ihre Ideen als die einzig richtigen vertrat. Für sie schien die innere Welt der Kinder mit archaischen Phantasien angefüllt zu sein. Die Außenwelt war kaum von Bedeutung. Melanie Klein redete ständig und konnte nicht zuhören. Sie hielt es für notwendig, dass alle Kinder als Teil der Erziehung analysiert werden müssten und selbst Freud warf die Frage einer psychischen „Impfung“ auf. Bei Klein führten ihre Überlegungen zu der „prophylaktischen Analyse“, der sich auch viele Analytikerkinder unterziehen mussten (siehe Beitrag zu Melanie Klein). Nelly Wolffheim war anderer Meinung. Sie hielt eine Behandlung nur bei neurotisch erkrankten Kindern für sinnvoll. Nach Rücksprache mit Abraham übernahm Melanie Klein die Analyse der 6-jährigen Erna, einem ziemlich gestörten Kind aus Nelly Wolffheims Kindergarten. Klein und Wolffheim besprachen regelmäßig die Entwicklung der Kinder und ihre Konflikte (Schoonheten 2020, S.517). Anlässlich der 1. Deutschen Zusammenkunft für Psychoanalyse in Würzburg am 11.10.1924 berichtete Melanie Klein über ,Erna'. Erna war nicht das einzige Kind aus Nelly Wolffheims Kindergarten, das Klein analysierte. Nelly Wolffheims Beitrag an den Analysen und an ihren Publikationen erwähnte Klein nicht und das verletzte Wolffheim.
Dass die Berliner Psychologische Gesellschaft unter der Leitung von Albert Moll allergisch auf Psychoanalyse reagierte, musste Nelly Wolffheim erleben, als sie einen Vortrag vor der Gesellschaft hielt und auch Melanie Klein dazu eingeladen hatte. Klein hielt unaufgefordert ein Koreferat voller sexualisierender Interpretationen. Ihre Diskussionsbemerkungen führten zu einem heftigen Wutanfall Molls und keiner der Teilnehmenden bezog sich mehr auf Nelly Wolffheims Vortrag (Wolffheim 1997, S. 162).
Trotz aller Vorbehalte gegen Melanie Kleins persönlichen Auftretens und ihrer Theorie, war Nelly Wolffheim über zweieinhalb Jahre Kleins Sekretärin. Sie diktierte ihr an drei Abenden in der Woche auch sehr persönliche Briefe, die sie von ihrer schwachen, verletzlichen Seite zeigten und Nelly Wolffheim damit ins Vertrauen zog. Sie diktierte ihr auch ihre, für die Publikation vorgesehenen, Schriften und Kasuistiken - ohne Notizen - und diskutierte sie mit Nelly Wolffheim. Wolffheim empfand ihre Art zu arbeiten eher als künstlerischen „Schöpfungsprozess“, weniger als wissenschaftlich.
In London, in der Emigration ebnete Melanie Klein Nelly Wolffheim manchen Weg und sie trafen sich gelegentlich eher unverbindlich im Rahmen allgemeiner Geselligkeit. Von ihrem persönlichen Leben – wie der Feier zu ihrem 70. Geburtstag und ihren theoretischen Überlegungen schloss Klein sie aus. Ein letzter Besuch Melanie Kleins bei Nelly Wolffheim hinterließ bei Wolffheim einen unangenehmen Nachgeschmack. Melanie Klein schenkte ihr ihr Buch „Envy and Gratitude“, mit einer persönlichen Widmung und erwähnte dann etwas, woraus Nelly Wolffheims entnehmen musste, dass Karl Abraham mit Melanie Klein über ihre Analyse gesprochen hatte. Nelly Wolffheim war schmerzlich enttäuscht und fühlte sich von Abraham verraten, demgegenüber sie tiefe Dankbarkeit empfand, da er sie von ihrer schweren Neurose befreit hatte. Aber Klein behauptete, dass diese in hohem Alter sowieso verschwunden wäre (Wolffheim 1997, S. 200 f). „Envy and Gratitude“, Neid und Dankbarkeit scheinen auch zwischen den beiden Frauen ein brisantes Thema gewesen zu sein.
Nelly Wolffheim als Schriftstellerin
Nelly Wolffheims erste bekannte Publikation, „eine pädagogische Studie“, war eine Abhandlung „Zur Geschichte der Prügelstrafe in Schule und Haus“ (1905, E.Trensdorff Verlag, Berlin).
Kerl-Wienecke (2000, S. 269 -278) hat 149 Veröffentlichungen und 10 Rezensionen aufgeführt. Sie erschienen zunächst in der Deutschen Krankenpflegezeitung und anderen Organen der deutschen Krankenpflege und Volksgesundheit. Ab 1913 begann sich das Spektrum der Zeitschriften um Organe zu erweitern, die Frauen oder pädagogische Psychologie im Titel führten. Auch renommierte Blätter, wie die Vossische Zeitung, kamen hinzu. Ab 1926 waren ihre pädagogischen Abhandlungen auch in den psychoanalytischen Fachzeitschriften, Imago und der Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik zu lesen. 1934, im nationalsozialistischen Deutschland, war Nelly Wolffheim das Publizieren verboten.
Bis auf einige vereinzelte Titel publizierte Nelly Wolffheim bis zu ihrem Lebensende schweren Herzens in deutscher Sprache – denn ihr Englisch empfand sie als nicht gut genug. Nach all dem Schrecklichen, was die Nationalsozialisten verbrochen hatten, musste sie sich sehr überwinden, um auf Deutsch zu schreiben (Kerl-Wienecke 2000, S.218).
1947 wandte sich Felix Schottlaender, Mitherausgeber der Psyche, mit der Bitte um Mitarbeit an Nelly Wolffheim und fragte sie nach weiteren potentiellen Autorenen. Nelly Wolffheim bot ihm ihre Schrift „Psychologisches zum Erzieherberuf“ an (siehe Psyche 1947/48). Da sie Refugee sei, könne sie es sich allerdings nicht leisten, ohne Honorar zu schreiben.
In Oxford, wo Wolffheim lebte, gab es keine Psychoanalytiker. Sie bot aber an, den Kontakt zu Melanie Klein zu vermitteln. Außerdem weist sie auf die sehr interessanten pädagogisch-psychoanalytischen Schriften Anna Freuds über die War Nurseries hin. Eine neue Entwicklung in der Gruppentherapie durch Foulkes dürfte für die Psyche ebenfalls von Interesse sein. (Schottlaender-Bestand, Wolffheim an Schottlaender 14.06.1947 unv.)
Nur zwei Publikationen erschienen nach dem Krieg in der Psyche. Sie publizierte vor allem in der von Dührssen und Schwidder herausgegebenen Zeitschrift ‚Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie‘, in deren Beirat sie war. Dort erschien, unter anderem ihre große Arbeit über Kinder im Konzentrationslager in drei Folgen (s.u.).
Zusätzlich bearbeitete sie in London den kinderpsychologischen Index für die Gesamtausgabe von Sigmund Freuds gesammelten Werken. Darüber hinaus stellte sie alles zusammen, was „Freud zur Kinderpsychologie“ in der von Heinrich Meng (1951) herausgegebenen Publikation Praxis der Kinder- und Jugendpsychologie, Erziehung, Unterricht, Neurosenprophylaxe, (1951, S.100-151) geschrieben hat.
1933-1939 Nelly Wolffheims
kluges und mutiges Manövrieren zwischen Freund und Feind.
Die Nationalsozialisten verboten Nelly Wolffheim weiter zu publizieren und Vorträge zu halten. Ihre Schrift Psychoanalyse und Kindergarten wurde auf dem Berliner Opernplatz am 10. Mai 1933 verbrannt.
Ilse Seglow, damals noch Ziegellaub (siehe Gedenktafel in der Duisburger Str.2) war mit Nelly Wolffheim befreundet und half ihr in ihrem Kindergarten (1935/36).
1936 starb Nelly Wolffheims Mutter, mit der sie die ganzen Jahre über zusammengelebt hatte. Nun war Nelly Wolffheim auch freier in ihren Überlegungen zur Emigration
.
In der Wiener Holocaust Library berichtete Nelly Wolffheim am 24.08.1955 und am 23.04.1960 Midia Kraus, wie sie 1933 mit der Privatausbildung einzelner jüdischer Mädchen, die die öffentlichen Kindergärtnerinnen-Seminare nicht besuchen durften, begann.
Eyewitness
Hier möchte ich Nelly Wolffheim selber sprechen lassen:
(mit freundlicher Genehmigung der Wiener Library.
https://www.testifyingtothetruth.co.uk/viewer/fulltext/104766/de/)
Emigration und Neustart als Außenseiterin
Obwohl Nelly Wolffheim in Hochspannung lebte, mit einem langen Arbeitstag, nahm ihr körperliches und geistiges Leistungsvermögen zu (Wolffheim 1997, S.172). 1938 suchte sie Schultz-Hencke auf, um sich mit seiner Hilfe auf ihre Emigration vorzubereiten. Sie ging zu ihm, da sie davon ausging, dass er kein Nazi sei – trotzdem habe sie die Behandlung nach kurzer Zeit „aus politischen Gründen“ abgebrochen (Wolffheim 1997, S.173). Unmittelbar vor ihrer Emigration trat eine schlimme Venenentzündung auf. Ihre Wohnung hatte sie bereits gekündigt und einen großen Teil der Möbel verkauft. Sie kam ins Jüdische Krankenhaus und erlitt dort einen ersten Angina Pectoris Anfall. Die Ausreise per Flugzeug gelang ihr trotz allem im Mai 1939.
Die nötigen Sicherheitsgarantien für ihren Aufenthalt in England bekam sie aus Amerika, von Karen Horney und von einer ihr unbekannten älteren Dame, die Ilse Seglow für sie über eine Zeitungsannonce, in der ‚Church Times‘, gefunden hatte (Seglow, Tonbandinterview, unv.). Nelly Wolffheim fühlte sich unglücklich. Materiell wurde sie von der Dame zwar rührend versorgt, empfand sich aber wie in einem „goldenen Käfig“ und fühlte sich als Jüdin und Refugee „vorgeführt“ (Berger 1996, S.17). Schließlich wollte sie nicht länger Gast sein, gab in London Sprachunterricht und Pädagogik und wohnte in der Nähe ihrer Berliner Freunde Ls. - in selbstverständlicher Nachbarschaft mit den früher so gefürchteten Mäusen.
Die folgenden 12 Jahre verbrachte Nelly Wolffheim in Oxford. Als ältere Frau war es ihr kaum möglich, Arbeit zu finden oder eine Unterkunft. Freunde, wie Ilse Seglow, unterstützten sie. Bis auf ihre panische Angst, Verantwortung für Kinder zu übernehmen, waren ihre neurotischen Störungen verschwunden. Zurück blieben Anfälle von Angina Pectoris und Gallensteine. Kinderbetreuung war ihr nur in ihrem eigenen Wohnhaus mit zwei Kindern möglich. Dafür erhielt sie beschämend wenig Geld (Wolffheim 1997, S.177).
Nelly Wolffheim kam nun auf die Idee, Kinderspiele zu entwickeln und zu verkaufen. Eine weitere Einnahmequelle war, neben gelegentlichen Publikationen, das Kopfmodellsitzen für die staatliche Kunstschule – obwohl das sehr anstrengend war. Sie habe Kapital aus ihrer „prägnanten Hässlichkeit“ schlagen können (Wolffheim 1997, S.178).
1952 kehrte Nelly Wolffheim nach London zurück. Zwar hatte sie gute Freundinnen, fiel aber aus dem psychoanalytischen Hilfsnetzwerk heraus. Sie gehörte eben doch nicht dazu.
1956 berichtete sie über die Gedenkfeier anlässlich Freuds Geburtstags in London: Psychoanalyse habe in Großbritannien bereits grundlegende soziale Bereiche durchdrungen. Auch aus Wissenschaft, Kultur, Malerei und Kunst seien psychoanalytische Begriffe oder Denkbewegungen nicht mehr wegzudenken. Im Mittelpunkt des Berichts steht aber die Arbeit Anna Freuds, die die Psychoanalyse „nicht nur als Heilfaktor“ verstehe, „sondern ihre Ergebnisse zur Grundlage aufbauender, vorbeugender Erziehungsarbeit“ mache. Nelly Wolffheim geht dann ausführlich auf Anna Freuds Aufbau der Residential War Nurseries ein, die Kinder aufnahm, die durch den Krieg gefährdet waren. Weiter beschreibt sie den Versuch von Anna Freud und Sophie Dann, sechs Kinder aus Theresienstadt als Kinderkollektiv zusammen aufwachsen zu lassen. Dann geht es um Kinder im Krankenhaus, deren Mütter ebenfalls aufgenommen werden, um den Kindern die Trennung zu ersparen und darum, die Erkenntnisse der Entwicklungspsychoanalyse für die Ausbildung von Medizinstudenten und Beratung von Müttern fruchtbar werden zu lassen und in den Hampstead Child Therapy Kursen Kindertherapeuten auszubilden.
Auf Nelly Wolffheims große Wertschätzung ihrer Arbeit reagierte Anna Freud nicht.
Nelly Wolffheim wohnte seit Dezember 1956 im Otto-Schiff-House in London Hampstead, einem Seniorenwohnheim für jüdische Flüchtlinge, nur drei Gehminuten von Anna Freuds Wohnung entfernt. Leider hat sie sie nie getroffen. Nelly Wolffheim fühlte sich von Anna Freud nicht anerkannt – und das schmerzte sie sehr (Ulrike Günther, geb. Popp verdanke ich diesen Hinweis auf Berger 1996, S.18).
Immer wieder hatte Nelly Wolffheim heftige Gallenbeschwerden und die Empfehlungen zur Operation (oder nicht) veränderten sich ständig. In dieser Zeit der lebensbedrohlichen Beunruhigung arbeitete sie an einer umfangreichen Studie über Kinder, die Konzentrationslager überlebt hatten.
Eine Operation wurde im Januar 1957 unvermeidlich und verlief erfolgreich. Am Tag ihrer Entlassung wurde allerdings ein „Riss am Herzen“ festgestellt und Nelly Wolffheim musste mindestens 5 Wochen möglichst unbeweglich liegen. Nach neun Wochen war sie wieder ganz hergestellt und fühlte sich in dem sorgenfreien Leben des Altersheims sehr wohl.
Verwaiste Kinder
In einer großartigen Literaturarbeit, ergänzt durch Interviews und weitere Quellen (schriftliche und mündlichen Berichte, Briefe und andere Dokumente) stellt Nelly Wolffheim alles an Wissen über die Kinder und Jugendlichen, die ihre Eltern in Folge des Zweiten Weltkriegs verloren hatten und unfassbares Grauen in KZs erleben mussten, zusammen (Wolffheim 1958 u.1959).
Ungefähr 15 000 Kindern waren in den 40er Jahren durch Theresienstadt geschleust worden, das häufig nur als Durchgangslager diente. Sie stammten aus verschiedenen Ländern und sehr unterschiedlichen sozialen Schichten. Diese Kinder hatten bereits vor der Deportation schlimme Erfahrungen machen müssen. Es sind sehr bewegende Berichte, mit kleinen kasuistischen Vignetten, die besonders gefühlsnah wirken, da sie von einer nüchternen Beobachterin stammen, die ohne Anklage oder Vorwurf schreibt. Die deutsche Leserschaft musste sich hier – vielleicht zum ersten Mal - mit den durch deutsche Nationalsozialisten zu verantwortenden Grausamkeiten an Kindern auseinandersetzen.
Nach der Befreiung von Theresienstadt wurden 1000 Kinder von England aufgenommen und in Übergangsheime gebracht. In dem Lager Windermere, das von Oskar Friedmann und Alice Goldberger, einer Mitarbeiterin Anna Freuds, geleitet wurde, lebten 300 Kinder. Die Kinder waren froh über ihre schönen Zimmer, fließendes Wasser und die gute Ernährung. Sie erholten sich in den zwei Monaten ihres Aufenthalts, zumindest körperlich, erstaunlich schnell und überwanden die Sprachbarrieren oft mit einem Gemisch aus Deutsch und Jiddisch. Allerdings fiel es auf, dass diese Kinder das normale Gehen verlernt hatten. Sie marschierten stattdessen – wie sie es vom KZ gewohnt waren (Wolffheim 1958, S.303f.).
In einer schrecklichen Verfassung waren die Kleinkinder. Viele waren von Ausschlag bedeckt, hatten abrasierte Köpfe und waren viel zu klein und zu leicht für ihr Alter. Nach Anna Freud waren sie um „die Mutterliebe betrogen“ worden. Sie weinten und schrien unaufhörlich und benahmen sich wie „wilde Tiere“ (nach Wolffheim 1958, S.304).
Nach Anna Freuds Überlegungen war die Gruppe für diese kleinen Kinder an die Stelle der Mutter getreten und sie erwirkte, dass eine Gruppe deutsch-jüdischer Waisen, die nur herumgestoßen worden waren, als Kindergruppe erhalten blieb. Die Kinder wurden in einem Landhaus, „Bulldogs Bank“ in der Nähe von London untergebracht, das von den Schwestern Sophie und Gertrud Dann geleitet wurde. Nachdem sie zur Ruhe gekommen waren, wurden sie herzlich von „älteren Geschwistern“ im Lingfield House empfangen, einem Heim für elternlose Kinder, die sich bereits gut eingelebt hatten. Es wurde ebenfalls von Alice Goldberger geleitet. Godfrey (Gadi) Josef war eines dieser sechs Kinder (siehe Text zu Edith Jacobssohn https://mitfreudinberlin.jimdofree.com/gedenktafeln-mit-freud/edith-jacobssohn/#EJ_Anna%20Freud).
In Southampton-Durley, das unter Oskar Friedmanns Leitung stand, lebten 152 Kinder. Sie kamen direkt aus Bergen Belsen und Buchenwald. Diese Kinder waren zwar in gutem Ernährungszustand, aber besonders anfällig für Krankheiten. Sie waren voller Misstrauen gegenüber Erwachsenen. Die aus Osteuropa stammenden Kinder hielten in besonderer Weise an Bräuchen des orthodoxen Judentums fest. Es war sehr typisch für all diese Kinder, dass sie den Aufenthalt im Krankenzimmer besonders schätzten. Hier wurden sie wenigstens ein kleines bisschen persönlich betreut (Wolffheim 1958, S.308).
Eine Untersuchung der Schweizer Psychologin Marguerite Loosli-Usteri zeigt, dass Kinder und Jugendliche, deren Heime durch zionistische Ideale geprägt waren, weniger depressiv, ängstlich und bitter waren als Kinder ohne die Vision eines eigenen Staates. Es bestehe allerdings die Gefahr, dass das schwere Leid dieser Kinder nur verdrängt werde und sich später in anderer Form zeigen könne.
Im Gespräch mit David Umanski, Direktor der Kinder- und Jugendlichen Organisation Aliyah, gewann Nelly Wolffheim den Eindruck, dass das Leben in Kibbutzin für diese Heranwachsenden, die schreckliche Erlebnisse zu verarbeiten hatten, eine ideale Hilfe zum Neubeginn bieten könnte (Wolffheim 1958, S.310).
Nettie Sutro-Katzenstein, die das Schweizer Hilfswerk für durch die Naziverfolgung bedrohten Kinder und Jugendlichen (Shek) mitgegründet hatte, fasste die Erfahrungen des Hilfswerks zusammen: Je jünger die Kinder waren, desto weniger Dauerschäden trugen sie davon. Von den 10 000 Emigranten- und Flüchtlingskindern waren die meisten körperlich und seelisch gesund. Ihre Skepsis gegenüber diesem Befund klingt in Nelly Wolffheims Abschlusskommentar an. Aber auch Sutro-Katzenstein räumt ein, dass „zarte und sensible (Kinder) von den Ereignissen förmlich zerbrochen“ wurden (Wolffheim 1959, S.21).
Aus Paris berichtete Margaret Duncan über das Kinderheim „Le Renouveau“, das 1945 von den vier französischen Résistance Kämpferinnen Claude François-Unger, Simone Chaye, Elisabeth Bezançon und Marguerite (Peggy) Camplan gegründet worden war, die von dem Philosophen und Psychologen Henri Wallon unterstützt wurden. In dem Heim lebten 70 Kinder zwischen 10 und 21 Jahren. Claude François-Unger konnte den Kindern das Gefühl vermitteln, zu Hause zu sein und geliebt zu werden – obwohl sie ihnen keine Liebe zeigte und gefühlsmäßig nichts von ihnen verlangte. Sie erlaubte ihnen aber, ihre Aggressionen auszudrücken. Durch eine Art der Selbstregierung ließ sie die Kinder ihre Schwierigkeiten selbst durchkämpfen. Sie griff erst später ein. Auf diese Weise fühlten sich die Kinder respektiert und in ihrer Meinung gehört. Bestrafung gab es nicht – aber „raue Gerechtigkeit“. Besonderer Wert wurde auf einen Schulabschluss gelegt, um das Selbstbewusstsein der Kinder zu stärken und ihnen damit eine gute soziale Stellung zu sichern.
In Österreich gab es verschiedene Durchgangslager für jüdische Familien, die KZs überlebt hatten und nach Israel, Amerika oder anderen westlichen Länder gehen wollten. Auf ein Gemeinschaftsleben legten diese Familien keinen Wert. Sie wollten nur weg.
Die UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) hatte hier mehrere Kinderheime. Meistens wurden jüdische Waisenkinder, unter 10 Jahren aufgenommen, die irgendwo gefunden worden waren. Je 25 Kinder kamen auch aus heimlich geführten Kindergruppen. Eine Gruppe von ca 6-Jährigen lebte im Wald versteckt unter der Herrschaft einer grausamen Aufseherin, die sie einem gnadenlosen Sauberkeitstraining unterwarf. Ihre Mütter waren in Arbeitslager verschleppt worden. Als die Kinder in das Heim gebracht werden sollten, gerieten sie in Panik und schrien Tag und Nacht. Mit Spielsachen konnten sie nichts anfangen. Sie hielten sich vor allem aneinander fest. Die andere Gruppe war in einem kleinen Dorfhaus gefunden worden. Eine liebevolle junge Betreuerin hatte sich ihrer angenommen und sie waren recht fröhlich. Alle Kinder mussten die gerade neu eingegangenen guten Beziehungen wieder aufgeben, weil ein Gesetz erlassen worden war, das verlangte, dass alle Kinder in ihre Heimatländer zurückgebracht werden müssten (Wolffheim 1959, S.23).
Über die Anpassungsfähigkeit von Refugié und heimatlos gewordenen Kindern schreibt Nelly Wolffheim, dass die Erziehung zur Selbständigkeit auf der Grundlage mütterlicher Fürsorge die beste Voraussetzung gewesen sei, um den KZ-Terror überstehen zu können. Trotz allem verwahrlosten Kinder im KZ aber sehr schnell, unabhängig von ihren Herkunftsfamilien. Die Kinder hatten erleben müssen, dass die Nationalsozialisten die Autorität ihrer Eltern zerstörten - sie entmachteten und entwürdigten (Wolffheim 1959, S.26).
Nelly Wolffheim reflektiert die erstaunliche Feststellung, dass „sehr viele junge Menschen die Schrecknisse des KZ ohne deutlich bemerkbare Schädigungen überstanden haben“ und folgt dabei dem ungarischen Journalisten Eugen Heimler, der selbst Auschwitz und andere KZs überlebt hatte, nach England emigrierte und mithilfe einer eigenen Analyse psychoanalytisch über seine KZ-Erlebnisse nachdachte. Die oft grausame Phantasiewelt Heranwachsender, die oft voller Angst und Rohheit sei, sei im KZ zur Realität geworden. „Es war ein Abreagieren und brachte daher oft Erleichterung statt Schrecken. Es hatte gewissermaßen einen heilenden Effekt.“ Nach der Pubertät werde in die Persönlichkeitsentwicklung weniger stark eingegriffen. Die den Eltern entgegengebrachten Gefühle übertrugen sich auf die Mitinsassen. Junge Kinder aus kultivierten Familien litten sehr viel mehr unter den Eindrücken des KZ als andere, die an eine raue Umgebung gewöhnt waren. Kinderneurosen wurden im KZ nicht bemerkt. Erst anschließend kam es oft zu seelischen Erkrankungen. Treten Lagersituationen in Träumen auf, so seien sie als Deckerinnerungen für Kindheitserlebnisse zu bewerten. Künstlerpersönlichkeiten fühlten sich nach der Befreiung - oft auch schon im Lager – inspiriert „Leiden verstärkt und vertieft Begabungen“. Nelly Wolffheim hält es aber auch für möglich, dass die schweren Symptome erst nach einer langen Periode gesunden Verhaltens auftreten könnten (Wolffheim 1959, S.27).
Einzelne Berichte von Kindern zeugen von ihrer schweren Leidenszeit und einer tiefen Ratlosigkeit, diesem Leiden jemals entkommen zu können. „Viel schlimmer als ihre körperliche ist ihre seelische Verfassung. Sie schwanken zwischen überlauter, übertriebener Lustigkeit, Depression und Apathie“. Viele hatten „böse Traumperioden“. „Das Gefühl der Verlassenheit lastet auf ihnen unendlich viel schwerer als alles, was sie im KZ mitgemacht haben.“ Sie befinden sich „in einer Art Vakuum und wissen nicht, wohin mit sich, sie suchen Halt in dieser großen, fremden, unverständlichen Welt.“ „Wir sind jetzt viel trauriger als im KZ“ (Wolffheim 1959, S.61).
Als Nelly Wolffheim begonnen hatte, sich mit den Nachwirkungen eines KZ-Aufenthalts und den ständigen Trennungen, die Kinder ertragen mussten, auseinandersetzte, war sie davon ausgegangen, dass nie heilende Traumata zurückbleiben würden. Die Art des Umgangs nach der Befreiung erschien von wesentlicher Bedeutung für eine gelingende Verarbeitung zu sein. Für Nelly Wolffheim waren es aber nicht die äußeren Erfolge. Sie reflektiert die dahinter liegenden Traumatisierungen. Dass es eine tatsächliche „Gesundung“ geben könnte, bezweifelt sie – obwohl der Schein oft trüge. Aber selbst die Überwindung des Schrecklichen zeuge von psychischer und physischer Kraft. Eine gewisse Verzerrung mögen die Berichte ergeben, weil vor allem wohl über die gelungene Persönlichkeitswiederherstellung berichte wird und unzählige andere verborgen bleiben (Wolffheim 1959, S.69).
Wolffheim bringt den deutschen Lesern die Erkenntnisse der neu entstehenden Bindungsforschung nahe. Nach John Bowlbys und David Stafford-Clarks Untersuchungen über die Nachwirkungen einer Trennung von Säuglingen und Kleinkindern von ihren Müttern sind in der Regel tiefe Traumata die Folge und auch Winicotts Beobachtungen an Kindern, die evakuiert und in Pflegefamilien untergebracht wurden, beschreibt den Schaden für ihre psychische Entwicklung. Nelly Wolffheims Bericht endet mit einer Frage, die sich nur durch eine persönliche Psychoanalyse klären lasse: nämlich welchen Einfluss der erfahrene Antisemitismus und die schweren Angriffe auf die Selbstachtung Jugendlicher habe und ob sie jemals zu einem normalen Selbstbewusstsein zurückfinden könnten (Wolffheim 1959, S.70).
Zum Abschied
Zu ihrem 80. Geburtstags wird Nelly Wolffheim von G. Fischer, der für ihre Schülerinnen und Freudinnen spricht, mit den Worten geehrt: „Die Jahre der Praxis erfüllten Nelly Wolffheim nach ihren eigenen Bemerkungen in stärkerem Maße und verursachten ihr mehr Freude als die spätere erfolgreiche wissenschaftliche Tätigkeit. Dies ist für alle verständlich, die sie aus der praktischen Arbeit kennen und gesehen haben, wie für viele Kinder und junge Menschen die Begegnung mit ihr zum bleibenden Erlebnis wurde. Ihre lebendige und warmherzige Persönlichkeit hat sich fast alterslos die Aktivität und Energie bewahrt, mit der sie das ganze Leben lang einen zarten Körper hatte besiegen müssen“ (Fischer, G. 1959, S.72 f)
Mit einem leichten Infekt hatte Nelly Wolffheim einige Tage im Bett bleiben müssen. Dann starb sie friedlich am 2. April 1965 (Kerl-Wienecke 2000, S.256).
Literatur
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Zienert-Eilts, K. (2013): Karl Abraham. Eine Biografie im Kontext der psychoanalytischen Bewegung. Gießen, Psychosozial-Verlag
Für die Informationen zur Genealogie danke ich herzlich François Cellier. https://wwWolffheimmyheritage.de/site-family-tree-224678941/borchardt-pincus-peiser-family?rootIndivudalID=1594511&familyTreeID=1
Informationen aus Wikipedia:
Haupt, Johannes https://wwWolffheimstadtwikidd.de/wiki/Johannes_Haupt .
Manheimer, Victor https://de.wikipedia.org/wiki/Victor_Manheimer
Wolffeim, Nelly https://de.wikipedia.org/wiki/Nelly_Wolffheim
Wolffheim, Werner https://de.wikipedia.org/wiki/Werner_Wolffheim
Interviews von und mit Nelly Wolffheim aus der Wiener Library
https://wwWolffheimtestifyingtothetruth.co.uk/viewer/fulltext/104766/de/
https://www.testifyingtothetruth.co.uk/viewer/metadata/104766/1/eng/
https://www.testifyingtothetruth.co.uk/viewer/metadata/104778/1/eng/
https://www.testifyingtothetruth.co.uk/viewer/fulltext/104804/de/#titleCollaps
Fotos
Für die Überlassung der Bilder, auf denen Nelly Wolffheim zu sehen ist, bedanke ich mit bei Manfred Berger, Ida-Seele-Archiv, 89407 Dillingen.
Zum Stadtplan
Gedenktafel für Nelly Wolffheim in der Waitzstr. 16
Die Tafel wurde am 14. Juli 2021 angebracht.