(Bearbeitungsstand vom 27.11.2023)
Siegfried Bernfeld (* 7. Mai 1892 in Lemberg, Galizien; gest. 2. April 1953 in San Francisco) war Reformpädagoge und Psychoanalytiker, innovativer Naturwissenschaftler und Freudbiograph. Linkspolitisch engagiert in der zionistischen Jugendbewegung, wurde er später zu einem führenden Vertreter der Verbindung von Psychoanalyse und Pädagogik. Er lehrte von 1923 bis 1932 in Berlin als Dozent am Berliner Psychoanalytischen Institut und an der Hochschule für Politik.
Suzanne Aimée Paret (geb. Cassirer, gesch. Paret, verh. Bernfeld, * 3. April 1896 Brüssel, gest. 26. November 1963, San Francisco, USA) war Psychoanalytikerin.
Siegfried Bernfeld war mit ihr in dritter Ehe verheiratet.
In der Library of Congress liegen umfangreiche Aufzeichnungen des Interviews von Suzanne Bernfeld mit Kurt Eissler, in denen es unter anderem um ihren Bericht über ihre Analyse bei Freud geht.
https://www.loc.gov/resource/mss39990.12612/?q=bernfeld+cassirer&sp=2
Image 77 of Sigmund Freud Papers: Interviews and Recollections, 1914-1998; Set B, 1939-1974; Interviews; Cassirer Bernfeld, Suzanne, 1953, 1959
Berliner Adressen:
von Siegfried Bernfeld, Elisabeth Neumann und Suzanne Cassirer
1924 Elisabeth Neumann, Passauer Str. 5
1927 Siegfried Bernfeld, Tauentzienstr. 18a, 2.Stock („Dr.phil.Heilpädagoge“)
1928 Siegfried Bernfeld, Passauer Str. 5
1929- 1932 Bernfeld, Schillerstraße 2
1930 Elisabeth Neumann, Passauer Str. 5
1932, 1933 Siegfried Bernfeld, Pariser Str. 18a
Aus meinem Stadttagebuch
Biographie:
Siegfried Bernfelds Kindheit und seine Hoffnung auf Gesellschaftsveränderung durch Reformpädagogik
Siegfried (Selig) Bernfeld wurde am 7. Mai 1892 in Lemberg (westliche Ukraine) als erstes von drei Kindern (Lilli, verh. Stross, *28. April 1895, gest. 24. Juni 1986 und Manfred *17. Februar 1899, gest. 07. Juli 1944, KZ Theresienstadt) des jüdischen Tuchgroßhändlers Isidor Bernfeld (1866-1920), aus Preßburg, und dessen Ehefrau, Hermine Schwarzwald-Bernfeld (1872-1941), aus Lemberg, geboren. Die Familie zog nach Wien. Beide Eltern stammten aus jüdischen Familien.
Nach Privatunterricht, Volksschule und Gymnasium, schloss Bernfeld 1911 die Schule ab und studierte bis 1915 Biologie, Zoologie, Geologie, Pädagogik, Psychologie, Philosophie und Soziologie (bis auf ein Semester, 1914, an der Universität Freiburg) in Wien. Beeinflusst von den reformpädagogischen Ideen Gustav Wynekens (Gründer der freien Schulgemeinde Wickersdorf) und in der Hoffnung, über die Erziehung an einer besseren, sozialistischen Zukunft mitzuwirken, gründete er (Herbst 1912) das 'Akademische Komitee für Schulreform' (seine Forderungen: Gleichberechtigung der Geschlechter, Einrichtung von Schülervereinen, Schülerselbstverwaltung, Aufhebung der Unterschiede sozialer Herkunft in „klassenloser“ Erziehung). Die Mitglieder der Wiener psychoanalytischen Vereinigung (WPV) bat er um Überlassung von Analyseprotokollen und Krankengeschichten Jugendlicher, um deren Gemeinschaftsbildung, Produktivität und ihr Geschlechtsleben zu erforschen. Das Komitee wurde 1914 von der Polizei aufgelöst.
Siegfried Bernfeld versucht politische Protestbewegung, Reformpädagogik und praktische Psychoanalyse miteinander zu verbinden
Bernfeld war einer der Wortführer der zionistischen Wiener Jugendbewegung (z. B. in seinen frühen Veröffentlichungen in der Zeitschrift „Eos“, „das Classenbuch“). Zusammen mit Georg Gregor (Pseudonym Georges Bartizon) gab er auch die Zeitschrift “Der Anfang“, (1913) heraus, an der unter anderen auch Walter Benjamin mitarbeitete. Auch seine erste psychoanalytische Veröffentlichung in der Internationalen Zeitschrift f. Psychoanalyse („Zur unbewußten Determinierung des Denkprozesses“) fällt in diese Zeit (1913).
Seine erste Frau, Anne Salomon, eine Medizinstudentin, lernte Bernfeld vermutlich 1913 in München, durch die freistudentische Bewegung kennen. Beide wechselten 1914 nach Freiburg und Bernfeld baute hier eine "Wyneken-getreue" Studentengruppe auf. 1915 heiratete das Paar nach mosaischem Ritus in Wien. Ihre beiden Töchter, Rose Marie (verh. Rose Marie Ostwald *24.Juni 1915, Chemikerin, gest. 1985, USA) und Ruth (*08. April 1919 verh. Goldberg gest. ?) wurden geboren.
Am 26.10.1914 wurde Bernfeld zum Militärdienst einberufen. Als nicht türkisch sprechender Dolmetscher hatte er eine Militärgesandtschaft in die Türkei zu begleiten. Bereits nach einem Monat konnte er den Dienst, wegen eines Lungenspitzenbefundes, quittieren. Bernfeld war einer der wenigen Psychoanalytiker, die sich nicht patriotisch mit den Zielen des 1. Weltkriegs identifizierten.
Bernfeld schloss das Studium 1915 mit seiner Dissertation „Über den Begriff der Jugend“ ab. Am 12.05.1915 besuchte er die Wiener Psychoanalytische Vereinigung (WPV) als Gast. Im April 1918 gründete er die Zeitschrift "Jerubbaal" (Zeitschrift der jüdischen Jugend deren letzte Nummer im März 1919 erschien). Bernfeld hielt am 19.Januar 1919 seinen ersten Vortrag vor der WPV über "das Dichten Jugendlicher" und wurde als Mitglied aufgenommen. Er nahm regelmäßig an den Sitzungen teil und hielt dort weitere Vorträge. Freud ermutigte ihn ausdrücklich als Psychoanalytiker zu praktizieren. Bernfeld galt als Brückenbauer von der intellektuellen Protestbewegung zur wissenschaftlichen Vereinigung. Sein Freund, Otto Fenichel, ebenfalls einer der Intellektuellen der Wiener Jugendbewegung, setzte diese eingeschlagene Richtung kontinuierlich fort (Fallend, 1992, S.64). Bernfelds Gründung des „Kinderheims Baumgarten“ (1919), in dem 240 jüdische Waisenkinder lebten, gehört zu den bekanntesten Versuchen, Psychoanalyse in der Pädagogik anzuwenden. Bereits nach einem halben Jahr musste das Heim geschlossen werden, da der Sponsor (American Joint Distribution Committee) kein Geld mehr zur Verfügung stellte; das war das Ende von Bernfelds praktischer Tätigkeit als Reformpädagoge. Seine Erfahrungen beeinflussten maßgeblich die Kibbutzpädagogik in Israel, und Anna Freud nutzte sie zum Aufbau ihrer psychoanalytischen Kindergärten in Wien und London.
In der WPV setzte sich Bernfeld vor allem für die Gründung einer „Laienvereinigung“ (mit dem Namen „Imago“) ein. Freud unterstütze seinen Vorschlag.
1920 ging Bernfeld als Redakteur von Martin Bubers Zeitschrift „Der Jude“ nach Heppenheim und Heidelberg. Bereits Mitte 1921 kehrte er nach Wien zurück. Bis 1922 setzte er sich für zionistische Ziele ein.
Am 18.10.1922 wurde Bernfeld, zusammen mit Paul Federn zum Sekretär der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung gewählt, ein Jahr später in den Vorstand und zum Schriftführer des Korrespondenzblattes der IPV. Als er seine psychoanalytische Praxis eröffnen wollte und Freud fragte, ob er nicht, wie in Berlin empfohlen, eine Lehranalyse machen sollte, wischte Freud seine Zweifel vom Tisch, empfahl ihm sofort mit Behandlungen anzufangen und sich zu melden, sobald er in Bedrängnis geraten sollte – was sicher geschehen würde. Nachdem 1924 das Lehrinstitut der WPV gegründet worden war, übernahmen Helene Deutsch, Anna Freud und Bernfeld (als stellvertretender Vorsitzender) die Leitung. Sein Hauptinteresse galt der Anwendung der Psychoanalyse auf die Pädagogik. Als begabter öffentlicher Redner, der sein Publikum brauchte, um seine Gedanken entfalten zu können, wurde er besonders von Lehrern, Pädagogen und Sozialarbeitern zu Vorträgen eingeladen.
Persönliche Turbulenzen und ihre Folgen
Nach dem Ersten Weltkrieg herrschte in Wien große materielle Not und Bernfeld war unsicher über seine berufliche und private Zukunft – denn die Beziehung zu seiner Frau verlor zunehmend an Bedeutung. Während Bernfeld Sozialist war, geriet Anne Salomon stärker in den Bann der kommunistischen Parteipolitik.
Im Spätsommer 1923 begann Bernfeld eine Liebesbeziehung mit der aus Wien stammenden Schauspielerin Elisabeth Neumann (später verh. Viertel *05.April 1900 gest. 24.Dezember 1994), die in Berlin an der Volksbühne (bei Piscator) und am Preußischen Staatstheater spielte. Sie war die Schwester seines Kindermädchens, Josephine (Pepa) Kramer. Er bezog seine Geliebte in seine Projekte mit ein und träumte davon, dass sie die Hauptrolle seines Drehbuchs für einen psychoanalytischen Film „Drei Welten in einem Zimmer“, (1925) spielen sollte. Bernfeld hatte das Projekt gemeinsam mit Adolf Storfer entwickelt. Es konkurrierte mit dem Film von Karl Abraham und Hanns Sachs „Die Geheimnisse einer Seele“. Abraham und Sachs setzten sich, auch gegen Freuds Ablehnung, durch.
Am 11.August 1925 wurde Bernfelds Ehe mit Anne Salomon, die inzwischen ihr Medizinstudium mit der Promotion abgeschlossen hatte, geschieden. Anne Salomon plante, zusammen mit dem Wissenschaftler, Biologen und Musiker, Paul Kammerer (* 17. August 1880 in Wien; gest. 23. September 1926 in Puchberg am Schneeberg), der berühmt geworden war, da er den Beweis zur Vererbung erworbener Eigenschaften angetreten hatte, in Moskau ein Institut für Experimentalbiologie aufzubauen. Kurz vor ihrer Reise nahm sich Kammerer das Leben, da er im Fokus eines Skandals um die Fälschung seiner experimentellen Nachweise stand. Anne Salomon reiste allein nach Moskau und arbeitete am Marx-Engels-Institut an der Entzifferung der Handschrift von Karl Marx. In diesem Zusammenhang lernte sie ihren späteren Ehemann, den schwäbischen KPD-Funktionär, Historiker und Literaturkritiker Karl Schmückle kennen, der auf Empfehlung von Felix Weil (Institut für Sozialforschung) den Briefwechsel von Karl Marx und Friedrich Engels edieren sollte. Ihr Sohn, Michael Schmückle wurde im Dezember 1928 geboren.
Im Zuge der stalinistischen „Säuberung“ wurde das Institut geschlossen und Schmückle als Spion verurteilt und am 14.März 1938 erschossen. Auf der Flucht vor Hitlers Truppen in die Sowjetunion nahm sich Anne Salomon am 12. Dezember 1941 das Leben. Ihr Sohn kam ins Waisenhaus, floh von dort und schlug sich zu einem früheren Dienstmädchen, das in der Ukraine lebte, durch. Er wurde Bergbauingenieur und starb 1986 in Ost-Berlin.
Bernfeld ging Ende 1925, nach seiner Scheidung, nach Berlin und lebte mit Elisabeth Neumann zusammen. Anne Salomon und Siegfried Bernfelds Töchter wurden nach Wickersdorf ins reformpädagogische Internat geschickt, bis Bernfeld das Schulgeld nicht mehr bezahlen konnte und Rose Marie (1931) nach Wien zurückkehrte, um bei Bernfelds Mutter, ihrer Großmutter zu leben. 1933 musste auch Ruth die Schule verlassen. Bernfeld und Elisabeth Neumann heirateten 1930.
Siegfried Bernfeld als geschätzter Dozent und sein Versuch Psychoanalyse naturwissenschaftlich zu begründen
Bernfelds Berliner Jahre waren besonders produktiv. 1926 wurde er Mitglied der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG), war der Dozent am Berliner Psychoanalytischen Institut (BPI) mit den höchsten Hörerzahlen und publizierte in den unterschiedlichsten Zeitschriften, Fachzeitschriften, aber auch politischen Zeitschriften. Im Januar 1926 wurde er Dozent an der deutschen Hochschule für Politik und übernahm den Unterricht für Pädagogen am BPI. Aus dieser Gruppe entwickelte sich die „Arbeitsgemeinschaft für Kinder und Jugendpsychologie“, die sich, seit Herbst 1928, als Zentrum der psychoanalytischen Pädagogik in Berlin zu etablieren begann. Bernfeld bemühte sich, von einer Stellungnahme Freuds (19.Februar 1931) unterstützt, an der Philosophischen Fakultät der Berliner Universität um einen Lehrauftrag. Die Fakultät reagierte mit schroffer Ablehnung. Eduard Spranger, der einzige Vertreter der Pädagogik, der in Berlin/ Preußen eine Monopolstellung innehatte, kritisierte die Psychoanalyse als unwissenschaftlich und als Weltanschauung, die einseitig gegenüber anderen psychotherapeutischen Richtungen „agitiere“. Er fürchtete die „Wertentlehrung von wahrhaft Bedeutungsvollem“. 1927 hatte Bernfeld Sprangers „Psychologie des Jugendalters“ scharf kritisiert (Neumann (2016, S. 147), und Spranger war wohl kaum unvoreingenommen.
Um Otto Fenichel sammelten sich ab 1927 im Anschluss an den Innsbrucker IPV-Kongress die linken Analytiker. Zu ihnen gehörte Erich Fromm, Barbara Lantos und auch Siegfried Bernfeld.
Daneben begann Bernfeld, zusammen mit Sergei Feitelberg (* 1905; gest. 1967), einem jungen Moskauer Ingenieur und Medizinstudenten und dem Psychoanalytiker und Arzt Hans Lampl (1889-1958), die „Libidometrie“ zu entwickeln – ein Verfahren, von dem er sich eine experimentell-naturwissenschaftliche Absicherung der Psychoanalyse („der Spurenwissenschaft“) erhoffte. Die Untersuchungen konnten durch die Flucht Bernfelds nach Frankreich, Feitelbergs nach Lettland und Lampls nach Holland zu keinem Abschluss gebracht werden. 1938 berichtete Bernfeld ein letztes Mal in der American Association von seinen Untersuchungen.
Zwischen den Welten: Berlin – Wien – Menton - San Francisco
Von 1930 – 1932 ging Bernfeld zu Hanns Sachs in Analyse. Elisabeth Neumann war inzwischen eine Beziehung mit ihrem gemeinsamen Freund Karl Frank eingegangen, einem führenden Mitglied der leninistischen Widerstandsgruppe "Neu Beginnen", mit dem Bernfeld aus der Zeit der Wiener Jugendbewegung befreundet war. Bernfeld war in einer schweren persönlichen Krise. Er hatte sich auf "Neu Beginnen" wohl vor allem als Referent über Psychoanalyse eingelassen, von konspirativer Tätigkeit ist bisher nichts bekannt. Sergei Feitelberg, mit dem Decknamen „W“ oder „Weber“ stand der Organisation wohl näher und galt als Mittelpunkt eines Kreises von Intellektuellen, die über Psychoanalyse diskutierten (May/ Mühlleituner). Liesel Paxmann („Ellen“, „Ludwig“), die als Mitglied der Gruppe Kurierdienste übernahm, war bei Landauer in Frankfurt in Analyse gewesen und hatte zu Bernfeld in Analyse gehen wollen, landete dann aber bei Edith Jacobssohn (Mühlleitner, 2005, S.116) (siehe Edith Jacobsson).
Ende 1932 ging Bernfeld zurück nach Wien, ließ aber die Möglichkeit offen, nach Berlin zurückzukehren. Seine Wohnung in der Pariser Str. 18a überließ er für einige Monate Karl Frank, der untertauchen musste, und Elisabeth Neumann. 1933 trennte er sich von ihr, blieb aber freundschaftlich mit ihr verbunden.
In Wien hätte er gern eine Psychoanalyse bei Freud gemacht. Das erwies sich aber als nicht möglich. Kurz bevor Hanns Sachs in die USA geflohen war, hatte er ihm seine Analysandin Suzanne Cassirer-Paret (*03.04.1896 geb. Cassirer, gesch. Paret gest.26.11.1963) zur Fortsetzung ihrer Analyse empfohlen. Sie entschloss sich aber zu Freud zur Analyse zu gehen (von Spätherbst 1932 - 1934, sechs Mal wöchentlich, mit einigen "Nachträgen") und war bei Bernfeld in Kontrollanalyse. Suzanne Cassirer-Paret machte Bernfeld eine Liebeserklärung mit dem Zusatz, dass es sich um ein Symptom handele, das erst bearbeitet werden müsse. Die Kontrollanalyse wurde abgebrochen. Trotz dieser „Einsicht“ wurden beide ein Paar. Freud tobte und drohte Bernfeld mit dem Ausschluss aus der WPV. Im Frühsommer 1934 heirateten die beiden - Martin Freud war Trauzeuge - da es aus politischen Gründen für Suzanne Cassirer-Bernfeld sinnvoller schien, durch Bernfeld, die österreichische Staatsbürgerschaft zu erwerben (Eissler-Interview).
Bernfelds Wohnung in der Pariser Str. 18a lief inzwischen unter dem Namen „Paret“, also dem nichtjüdischen Namen des ersten Ehemannes von Suzanne Cassirer-Bernfeld und diente den Bernfelds nun vor allem als Postadresse. Sie war an Edith Taglicht, einer Religionslehrerin der jüdischen Gemeinde vermietet worden, unter der Bedingung, sie nicht als „Unterschlupf für Kommunisten“ zu benutzen. Edith Taglicht („Ted“) gehörte ebenfalls zu "Neu Beginnen". In der Verhaftungswelle Anfang September 1935 wurde auch sie verhaftet, und die Wohnung geriet ins Visier der Gestapo. Als die ahnungslose Suzanne Cassirer-Bernfeld noch einmal kurz nach Berlin kam, um die Reichsfluchtsteuer zu bezahlen und andere Angelegenheiten zu regeln, wurde sie verhaftet, verhört und „mit Konzentrationslager und Schlimmerem bedroht, und die Verhöre blieben nicht bei den Drohungen stehen“. Nur durch die Vermittlung des Presse-Attachés der italienischen Botschaft, einem Freund ihres ersten Ehemannes, wurde sie frei gelassen (Mitteilung von Peter Paret an Regine Lockot vom 29.02.2004).
Mitte Oktober 1934 übersiedelten Bernfelds mit den beiden Kindern von Suzanne Cassirer-Bernfeld, Peter und Renate und den beiden Töchtern Bernfelds, Ruth und Rose Marie, nach Menton an die Cote d’Azur. Durch die Vermittlung von René Spitz fand Bernfeld Kontakt zur Pariser psychoanalytischen Gruppe. 1936 lief ihre Aufenthaltsgenehmigung für Frankreich ab. Mit einer Zwischenstation in London (Januar bis Juli 1937) gelangten sie am 1. September 1937, mit kurzen Aufenthalten in New York, Chicago und Los Angeles, wo sich Frances Deri, Otto Fenichel und Ernst Simmel niedergelassen hatten, nach San Francisco.
Als „Laienanalytiker“ wird Bernfeld aus der psychoanalytischen Community ausgeschlossen und kämpft für die Mündigkeit psychoanalytischer Ausbildungskandidaten
Bernfeld organisierte eine monatlich tagende psychoanalytische Arbeitsgruppe, deren Besonderheit in ihrer Interdisziplinarität bestand. Hier waren nicht nur Psychoanalytiker vertreten, sondern auch Psychologen, Psychiater, Anthropologen, Pädiater und Ärzte. Zu der Gruppe gehörten, neben den beiden Bernfelds, Bernhard und Hildegard Berliner, Anna Maenchen, Emanuel Windholz, Erik Erikson, Else Frenkel-Brunswik und Egon Brunswik, Edward Chace Tolman, Harold Jones, Olga Bridgman, Alfred L. Kroeber (Anthropologe), Robert Lowie (Anthropologe), Ernst Wolff (Kinderarzt) und J. Robert Oppenheimer (Physiker und „Vater“ der Atombombe). Ein Institut gab es noch nicht und man traf sich in privatem Rahmen. Es war das „goldene Zeitalter“ der Psychoanalyse in San Francisco mit Diskussionen, die in einem „ökumenischen Geist“ geführt wurden. Zusammen mit Erik Erikson, Jean Macfarlane, Leona M. Bayer und anderen arbeitete Bernfeld an einer Langzeitstudie am „Institut for Child Welfare“ der University of California, Berkley über die psychischen Probleme von asthmatischen Kindern. Zusammen mit seiner Frau begann er eine wissenschaftliche Biographie Sigmund Freuds zu verfassen.
1942 wurde das ‘San Francisco Psychoanalytic Society and Institute’ als konstituierendes Mitglied der ‘American Psychoanalytic Association’ gegründet. Das bedeutete den Ausschluss von Bernfeld, Erikson, Maenchen, Nevitt Sanford und weiteren ‚Laienanalytikern‘ von der Kandidatenausbildung. Nichtmedizinische Psychoanalyse wurde damit auf eine Stufe mit den okkulten Praktiken der „Kurpfuscher“ gestellt. Vor allem die aus Europa geflüchteten Laienanalytiker hatten damit kaum eine Chance, sich niederzulassen – und auch die Mediziner waren zur „Nachqualifikation“ gezwungen, da ihre in Europa erworbenen Examina in Kalifornien nicht anerkannt wurden. Die medizinische Psychoanalyse beanspruchte eine Monopolstellung. Nur als Ehrenmitglied der Gesellschaft war es Bernfeld gestattet auch weiter zu lehren, zu supervidieren und Lehranalysen durchzuführen. 1944 geriet Bernfeld mit den Mitgliedern des ‚San Francisco Psychoanalytic Institute‘ in einen offenen Konflikt um den Ausschluss der Laienanalytiker und das bürokratische Règlement in der Ausbildung. Außerdem wurde Suzanne Bernfelds psychoanalytische Ausbildung nicht anerkannt. Die Feindseligkeiten gingen über sachliche Differenzen weit hinaus, denn einige Kollegen sahen in dem sprachlich gewandten, intellektuell gewinnenden Analytiker, der Freud besonders nahe gestanden hatte, eine gefährliche Konkurrenz. 1944 erschien gerade die erste Publikation der Bernfelds zur Freud-Biographik.
Mit einigen Studenten entwickelte Bernfeld 1944 ein eigenes informelles Ausbildungsprogramm im Geiste von Freiheit, Kreativität und Gleichberechtigung und hielt die Kurse in seiner Wohnung ab. Er engagierte sich überzeugend für eine psychoanalytische Ausbildung, in der der strenge, aus Berlin importierte „preußische Geist“ zugunsten einer freien und lebendigen Diskussion aufgegeben werden sollte.
Bernfeld war starker Raucher, rauchte drei Packungen pro Tag. 1951 erlitt er einen Herzinfarkt. Im Juni 1952 wurde er wegen eines Tumors am rechten Lungenflügel operiert und starb an den Folgen dieser Krankheit am 2. April 1953 in San Francisco.
Benveniste (2011) schreibt über ihn: „Er hatte die Leidenschaft des politischen Reformers, die Disziplin eines Mathematikers und das Temperament eines Künstlers [...] Er war freundlich und fürsorglich gegenüber Patienten und Studenten, warm, integer, intellektuell wahrhaftig und humorvoll.“ (eigene freie Übersetzung, S. 18).
Literatur:
Benveniste, D. (2011):Forgotten Analysts and their Legacy: Siegfried Bernfeld and the Spirit of Psychoanalysis. American Psychoanalytic Association 100th Annual Meeting San Francisco (June 8, 2011)
https://www.yumpu.com/en/document/read/12070917/siegfried-bernfeld-and-the-spirit-of-psychoanalysis-international-
Bothe-von Richthofen, R., Sandvoß F.(1993): Widerstand in Wilmersdorf Bd. 7 Widerstand (1933-1945) Taschenbuch – 1993
Eissler-Interview. Image 2 of Sigmund Freud Papers: Interviews and Recollections, 1914-1998; Set B, 1939-1974; Interviews; Cassirer Bernfeld, Suzanne, 1953 , 1959
https://www.loc.gov/resource/mss39990.12612/?q=bernfeld+cassirer&sp=2
Erich, T.(1992): Siegfried Bernfeld in Berlin.- Eine Arbeitschronik. (S.163 – 180).In: Reichmayr, J. (Hg.) (1992):
Fallend, K. (1992):Von der Jugendbewegung zur Psychoanalyse (S.48 – 69)
Fenichel, O. (1998): 119 Rundbriefe (1934-1945). (2 Bände). Band I: Europa (1934-1938); Band II: Amerika (1938-1945). Hrsg.: Johannes Reichmayr und Elke Mühlleitner. Frankfurt a. M. / Basel, Stroemfeld.
Hermanns (L.M.)(1992): Der komplizierte Fall.San Francisco oder „Psychoanalyse ist hier Laiensache“. Siegfried Bernfelds Brief an Anna Freud aus dem Jahr 1937 (S. 290 – 299). In:Reichmayr, J. (Hg.) (1992):
Kloocke R. u. Mühlleitner E. (2004): Lehren oder lernen? Siegfried Bernfeld und die „Pädagogische Arbeitsgemeinschaft“ am Berliner Psychoanalytischen Institut. In: Luzifer Amor. Heft 34, Psychoanalyse für Pädagogen, edition diskord, Tübingen
May, U. Mühlleitner, E. (Hg.) (2005): Edith Jacobson. Sie selbst und die Welt ihrer Objekte. Leben, Werk, Erinnerungen. Psychosozial-Verlag, Gießen.
Neugebauer, W.(Hg) (2016): Acta Borussica. 2.Reihe: Preussen als Kulturstaat. Wissenschaftspolitik in der Weimarer Republik. (Walter de Gruyter GmbH) Berlin/Boston. (Hg): BBAW Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Paret, P. (1992): Sisyphus und sein Autor. In: Fallend, K u. Reichmayr (Hgg.): Siegfried Bernfeld oder die Grenzen der Psychoanalyse. Basel, Frankfurt a. M. Stroemfeld/Nexus
Reichmayr, J.(1992): „Patienten, Bücher, Kurse nehmen mir den Liebesfederstiel“. Siegfried Bernfeld als Psychoanalytiker in Wien in seinen Briefen an Elisabeth Neumann (1922 – 1925). In Reichmayr, J. (Hg.) (1992)
Für die Durchsicht des Textes danke ich Ludger M.Hermanns.
English Chronicle
1892 7th May: Birth of Siegfried (Selig) Bernfeld in Lemberg (westliche Ukraine). The parents, Isidor Bernfeld (1866-1920) and Hermine Schwarzwald-Bernfeld (1872-1941) were living in Vienna.
1895 28th April: Birth of sister Lilli in Vienna.
1899 17th February: Birth of brother Manfred in Vienna.
1911 Final school exams, following private tuition, primary school and grammar school. From winter term1911/12 until winter term 1913/14 studies of natural sciences, pedagogic and psychology in Vienna.
1912 Autumn: Founds and chairs the Academic Committee for School Reform (influenced by Gustav Wyneken).
1913 First reform pedagogic and psychoanalytic publications.
1914 Summer term in Freiburg, studies of pedagogic and psychology.
1915 Conscription to military service. Released because of tuberculosis of the lung.
1915 8th February: Marriage to Anne Salomon (1892-1941)
12th May: Guest in the Vienna Psychoanalytic Association.
24th June: Birth of daughter Rosemarie.
1918 April: Founding of the journal “Jerubbaal”, (Journal of the Jewish Youth, last issue March 1919)
19th November: First paper to the Vienna Psychoanalytic Association: On the poetic creations of adolescents.
1919 8th April: Birth of daughter Ruth
18th June: Bernfeld is unanimously elected as member of the Vienna Psychoanalytic Society.
August: Founding of the childrens home “Baumgarten”, with 240 Jewish orphans, as an attempt to combine psychoanalysis and reform pedagogic. It closes after 8 months.
1920 Summer: Bernfeld works for the journal “Der Jude” (“The Jew”), edited by Martin Buber, in Heppenheim and Heidelberg.
1921 Return to Vienna. Frequent publications on the research on adolescence.
1922 Starts a psychoanalytic practice, with the support of Freud. Deputy secretary of the Vienna Psychoanalytic Association.
1923 Editor of the Korrespondenzblatt of the IPV.
1925 Autumn: Move to Berlin to his partner, the actress Elisabeth Neumann.Various contributions on pedagogic, psychoanalysis and politics. Extensive lecturing.
1926 Teacher for pedagogues at the Psychoanalytic Institute. Lecturer at the German Academy for Politics.
1930 Marriage to Elisabeth Neumann. Psychophysiological research. Starts analysis with Hanns Sachs (till 1932)
1931 Separation from Elisabeth Neumann and severe personal crisis.
1932 Autumn: Return to Vienna.
1933 Divorce from Elisabeth Neumann.
1934 Early summer: Bernfeld marries Suzanne Paret, née Cassirer (1896-1963), daughter of the art merchant Paul Cassirer.
Autumn: Move to Menton, South of France. Libidometric research with Sergei Feitelberg.
1937 January till July in London
August: escape to the United States. Short stays in New York, Chicago and Los Angeles, then in San Francisco.
1944 Founding of a study group which includes, apart from psychoanalysts, also psychologists, psychiatrists, pediatricians, physicians and anthropologists; the group stood in opposition to the hierarchically structured American Psychoanalytic Association, which was exclusively for doctors. It was the “golden age” of psychoanalysis in San Francisco. Publication of biographical studies on Freud, together with Suzanne Cassirer-Bernfeld.
1951 Bernfeld suffers a heart attack.
1952 10th November: In his last paper to the Psychoanalytic Association Bernfeld attacks the “Prussian mentality” within the psychoanalytic training.
1953 2nd April: Bernfeld dies in San Francisco as a result of a lung operation because of a tumor (he smoked heavily)
Für die Überlassung der Bilder vom IPV-Kongress 1934 Luzern (Tim N. Gidal) danke ich dem Jüdischen Museum Wien.
Für 'Bernfeld und die Katze' danke ich Daniel Benveniste.
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Adresse: Pariser Str. 18A, 10707 Berlin
Sponsoren dieser Tafel: Analytische Kinder.-und Jugendlichenpsychotherapeuten VAKJP
Datum der Enthüllung: 01.05.2004.
Anlass: 51. Jahrestagung der Vereinigung Analytischer Kinder und Jugendlichen-Psychotherapeuten (VAKJP). Thema: 100 Jahre kleiner Hans. Zwischen Neurose und früher Entwicklungsstörung.
Mitwirkende: Dr. Sibylle Weidmann
Bei Fassadenarbeiten ging die Tafel verloren. Professor Micha Brumlik engagierte sich ganz besonders für eine neue Tafel. Die neue Hausbesitzerin, die CMIB Geschäftsführungsgesellschaft mbH, vertreten durch ihren Geschäftsführer Herrn Geert Nygaard übernahm die Kosten. Die neue Tafel wurde am 14. November 2014 angebracht.