(Bearbeitungsstand vom 15. August 2024)
Max, Morduch (Markus) Eitingon (* 26. Juni 1881 in Mogilew, Russisches Kaiserreich, gest. 30. Juli 1943 in Jerusalem) war umfassend kulturell und literarisch gebildet und praktizierte als Psychoanalytiker. Vor allem widmete er sich den organisatorischen Aspekten der Etablierung und Professionalisierung der Psychoanalyse. Zusammen mit Karl Abraham und Ernst Simmel gründete er das Berliner Psychoanalytische Institut und die Poliklinik. Von 1925 bis 1932 war er Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. Mit seinem Vermögen finanzierte er weitgehend das Berliner Psychoanalytische Institut und die Poliklinik, die auch unbemittelten Personen zur Verfügung stand. Seine Zuneigung zu Sigmund Freud drückte er in großzügigen, eng an Freuds Wünschen angelehnten Geschenken aus, in unbedingter Loyalität und in der Einführung von Strukturen, die den Erhalt der Freudschen Lehre sichern sollten. Bis zu seiner erzwungenen Emigration nach Palästina lebte er, zusammen mit seiner Frau Mirra Jacovleina, (geb. Jakowlewna Burowski, auch Mirra Burovskaya fälschlich, Raigorodsky) von 1921 bis 1928 in der Rauchstr. 4 und von 1928 bis 1933 in der Altensteinstr. 26.
Mirra Jakowlewna Burovskaya Brodskaya
Mirra Khariton– ein Ende mit Schrecken
Gastfreundschaft im Hause Eitingon
Der „blaue Vogel“ und die „Katze“
Boris Khariton und Juli Khariton
Originalaufnahmen mit Juli Khariton
Mirra in ihrer Berliner Zeit (für die Überlassung des Fotos aus dem Besitz von Erich Gumbel danke ich Ludger M. Hermanns und Michael Schröter)
Max Eitingons dokumentierte Berliner Adressen:
1910- 1911 Hindersinstr. 14
1911-1912 Marburger Str. 8 I
1912 - 1921 Güntzelstr. 2
Anfang Mai 1921 – Nov. 1928 Rauchstr. 4
Nov. 1928- 1933 Altensteinstr. 26
Psychoanalytischer Kongress, 1929 Oxford. Die Teilnehmer.
Mit freundlicher Genehmigung des Sigmund Freud Archives und der Library of Congress.
Zur Biographie:
Max Eitingon war der älteste Sohn des wohlhabenden russisch-österreichisch-polnischen Pelzhändlers Chaim Eitingon (1859-1932) und seiner Ehefrau Alexandra, geb. Lifschitz (1861-1929). Die Familie lebte in frommer jüdischer Tradition als Teil eines großen in Moskau ansässigen Clans, der im Pelzhandel tätig war. Max Eitingon hatte noch drei jüngere Geschwister: Waldemar, Fanny und Esther.
Chaim Eitingon ließ sich 1882 in Moskau nieder. Dass er bereits ein Jahr später, im Herbst 1893, eine Zweigstelle der Firma in Leipzig eröffnete, führen Ginor und Remez (2015) darauf zurück, dass er als „Kaufmann 2. Klasse“ in Moskau kein Wohnrecht erhielt und ausgewiesen wurde.
Chaim Eitingon erwarb das Bürgerrecht nun in Buczacz, einer Stadt im österreichischen Galizien, die nach dem Ersten Weltkrieg zu Polen gehörte und heute zur Ukraine. Seine Familie erhielt damit zunächst die österreichische Staatsangehörigkeit, die dann zur polnischen wurde. Sie ließ sich in Leipzig nieder. Chaim Eitingon konnte sein Geschäft als weit vernetztes Firmenimperium zwischen Moskau, New York, London, Paris, Stockholm und Lodz ausbauen und es sogar in eine Aktiengesellschaft umwandeln mit einem Jahresumsatz von 25 Millionen Reichsmark (zwischen 1926 und 1928). Er stiftete 1922 die größte orthodoxe Synagoge Sachsens, die Ez-Chaim-Synagoge in Apels Garten. Zusammen mit seinem Neffen Motty Eitingon gründete er die „Israelitische Krankenhaus-Eitingon-Stiftung“ und finanzierte das Israelitische Krankenhaus, das mit der modernsten Technik ausgestattet war (1928).
Max Eitingon ging nur bis zur II. Realschulklasse. Abitur zu machen, war ihm wegen seines schweren Stotterns nicht möglich. Trotzdem studierte er, mit eingeschränkter Zulassung, zunächst Geschichte, Physik, anorganische Chemie, Zoologie, Kulturphilosophie, Germanistik und Kunstwissenschaften in Leipzig und Halle (bis WS 1902). Aufgrund seines guten Abschlusszeugnisses konnte er sich als ordentlicher Student der Medizin in Heidelberg einschreiben (bis Sommer 1903). Nach einem weiteren Studium in Marburg (bis WS 1903/04) wechselte er 1904/05 an die Universität Zürich und spezialisierte sich auf Psychiatrie. Die Einschränkung seiner Zulassung bedeutete auch, dass er kein Staatsexamen ablegen konnte und damit nicht über eine allgemeingültige medizinische Qualifikation verfügte.
Zu Max Eitingons Freunden aus der Marburger Zeit gehörten Albert Nacht und Anna Smeliansky (Schröter 2004, S. 982). Anna Smeliansky war eine aus Russland stammende Ärztin und Max Eitingon machte ihr einen Heiratsantrag. Sie wies ihn ab, da sie an einer erblich bedingten Krankheit litt, die zwangsläufig zur Blindheit führte. Anna Smeliansky vermittelte die Bekanntschaft mit ihrer Freundin Mirra, Eitingons späterer Frau. Anna Smeliansky wurde auch Psychoanalytikerin und wohnte in ihrer Berliner Zeit in der Berliner Psychoanalytischen Poliklinik. Sie und Max Eitingon blieben lebenslang miteinander verbunden (Ginor u. Remez 2015, S.17. siehe auch https://de.wikipedia.org/wiki/Chaim_Eitingon).
Während seiner Unterassistententätigkeit an der psychiatrischen
Universitätsklinik Burghölzli (vom 12. bis 30. April 1906 und vom 2. März 1908 bis 24. April 1908) traf Max Eitingon auf einen Kreis von Kollegen, unter ihnen den Klinik-Direktor Eugen Bleuler, dessen Oberarzt C.G. Jung und den Assistenzarzt Karl Abraham. Diese kleine Gruppe war gerade im Begriff, sich die Psychoanalyse in Theorie und praktischen Übungen anzueignen. Max Eitingon begann sich für diese neue Methode zu interessieren und wandte sich Ende 1906 mit der Bitte an Sigmund Freud, eine junge Russin in Analyse zu nehmen. Es ist wohl charakteristisch für ihn, dass er sich selbst zurückstellte. Freud willigte ein, und Eitingon begleitete die junge Frau im Januar 1907 nach Wien. Bei dieser Gelegenheit nahm er zweimal an den Sitzungen der Mittwochsgesellschaft der Freud-Gruppe teil. Im September 1907 trafen sich Freud und Eitingon zufällig in Florenz und verabredeten sich zu einem dreistündigen Abendspaziergang durch Rom.
Mit der Promotion Über die Wirkung des Anfalls auf die Assoziationen der Epileptischen schloss Max Eitingon sein Studium 1909 ab. Im September 1909 besuchte er Russland mit dem Ziel, die russische Staatsbürgerschaft zu erlangen und in der Hoffnung, dank seines Doktortitels im Land bleiben zu können und eine Praxislizenz zu erwerben. Der Plan schlug fehl (Ginor u. Remez 2015, S. 18).
Bevor er im November zur neurologischen Fachausbildung an die Poliklinik von Hermann Oppenheim nach Berlin ging, suchte Eitingon Freud in Wien auf, besuchte Sitzungen der Wiener Vereinigung und hielt in Freuds Universitätsseminar einen Vortrag. Für Freud, der gerade an seiner Leonardo-Studie arbeitete, war der kunsthistorisch hochgebildete und hilfsbereite Max Eitingon ein willkommener Gesprächspartner. Eitingon kam aber auch, um die Psychoanalyse selber zu erfahren. Das Setting dieser ersten „Lehranalyse“ bestand in 10 bis12 Abendspaziergängen auf denen Freud Eitingon analysierte.
Aus ihrer gemeinsamen Zeit am Burghölzli war Max Eitingon mit Karl Abraham befreundet. Ob er sich der von Abraham 1908 gegründeten Berliner Psychoanalytischen Vereinigung anschloss, ist nicht bekannt. Eitingon fühlte sich auch von der zionistischen Idee angezogen und besuchte 1910 Palästina. Schon damals soll er erwogen haben, dort eine psychoanalytische Arbeitsgruppe zu gründen. Er entschied sich dagegen.
Hochzeit mit Mirra Jakowlewna und Eitingons Bewährung als Arzt im 1. Weltkrieg
Am 20. April 1913 heiratete Max Eitingon die russische Schauspielerin Mirra
Jakowlewna (geb. Burowski, gesch. Brodski, gesch. Chariton, siehe gesonderter Beitrag). Nun zog sich Abraham im persönlichen Kontakt von ihm zurück, weil er Mirra nicht schätzte. Fachlich blieben beide Männer loyal miteinander verbunden. Auch Freud hatte Schwierigkeiten mit Mirra, da sie viel von Max Eitingons Aufmerksamkeit beanspruchte. Eitingon verbrachte immer wieder mehrere Wochen mit ihr zusammen in südlichen Erholungsstätten und stand damit nur bedingt für die Anforderungen Freuds und der psychoanalytischen Gesellschaft zur Verfügung.
1914 meldete sich Eitingon freiwillig zum Kriegsdienst als Arzt in der österreichischen Armee. Mirra folgte ihm als Krankenschwester. Seine Erfolge bei der Behandlung von Zwangs- und Kriegsneurotikern wurden mit der Beförderung zum Chefarzt der Beobachtungsabteilung in Kassa und der Auszeichnung mit dem „goldenen Verdienstkreuz mit der Krone am Band der Tapferkeitsmedaille mit Allerhöchster Erschließung vom 11.08.1918“ honoriert.
Bei einer Tauglichkeitsuntersuchung erkannte er im Vorübergehen zufällig Adolf Lantz aus Berlin wieder, dessen Bild er nur aus der Zeitung kannte. Adolf Lantz war Theaterdirektor und später Drehbuchautor verschiedener Stummfilme (in Zusammenarbeit u.a. mit Pabst, Pirandello, Zuckmayer, und Schnitzler). Lantz, der von sich meinte, so verwahrlost ausgesehen zu haben, dass er sich selbst kaum erkannt hätte, war sehr überrascht von dieser etwas unwirklichen Begegnung. Er wurde zu Eitingons Sekretär. Versetzt nach Miskolcz, übernahm Eitingon, von Lantz begleitet, die Stelle des leitenden Oberarztes
in der psychiatrischen Abteilung. Lantz lernte Max Eitingon als großen Literaturkenner und sorgfältigen Arzt und Gutachter schätzen, der sich in 13 Sprachen fließend unterhalten konnte (Lantz 1950).
Max Eitingon wird Organisator der psychoanalytischen Ausbildung
Die Russische Revolution von 1918 veranlasste den in Russland lebenden Teil der Familie Eitingon ihren Firmensitz nach New York zu transferieren. Da das legal damals außerordentlich schwer war, legen die Autoren Ginor und Remez (2012) die Vermutung nahe, dass die Familie durch die Vermittlung des in Berlin akkreditierten sowjetrussischen Botschafters Adolf A. Joffe (April 1918 bis Nov.1919), der ein Bewunderer Freuds war, aus Russland ausreisen durfte. Von New York aus betrieb sie einen äußerst florierenden Pelzhandel mit der Sowjetunion.
1919 gilt als persönlicher Wendepunkt in Max Eitingons Leben. Für ihn bedeutete es eine schwere narzisstische Kränkung mit Insuffizienzgefühlen und Depression, keine Kinder mit Mirra haben zu können. Die psychoanalytische Bewegung verdankte dieser großen persönlichen Enttäuschung allerdings einen großen Zustrom finanzieller Mittel. In der Nachfolge des reichen Brauereibesitzers, Anton von Freund, der bereit gewesen war in Budapest eine psychoanalytische Poliklinik zu finanzieren, vorher aber gestorben war, übernahm Max Eitingon die Idee der Gründung einer Poliklinik und konnte Karl Abraham und Ernst Simmel für das Projekt gewinnen (Schröter 2015). Am 14. Februar 1920 konnte diese Klinik feierlich in der Potsdamer Straße 29 eröffnet werden. Max Eitingon vermittelte auch eine Spende von 5000 $ zur Unterstützung des Psychoanalytischen Verlags und schuf einen Fonds zu seiner Erhaltung durch weitere Spenden. Im Januar 1922 wurde Eitingon zum Schriftführer der von Karl Abraham geleiteten Berliner Psychoanalytischen Vereinigung gewählt. Die gemeinsame Arbeit war so erfolgreich, dass Anna Freud am 23. Januar 1923 an Lou Andreas Salomé schrieb: „Ich glaube, die Berliner Vereinigung ist viel tüchtiger wie unsere.“ (Rothe/ Weber 2001, S. 139). Ende 1922 waren insgesamt acht Analytiker fast den ganzen Tag an der psychoanalytischen Poliklinik tätig. Eitingon hielt zusammen mit Simmel regelmäßig Kurse zur Einführung in die psychoanalytische Therapie und Praxis in der Poliklinik ab. Die Poliklinik war ein wichtiger Baustein für die Praxis in der psychoanalytischen Ausbildung. Der Ausschuss, der Richtlinien zur psychoanalytischen Ausbildung erarbeitete, wurde ebenfalls von Eitingon geleitet. Auf dem IX. Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Bad Homburg, 1925, wurde Eitingon nun auch zum Vorsitzenden der Internationalen Unterrichtskommission gewählt, und die Berliner Richtlinien wurden zur Basis der international anerkannten psychoanalytischen Ausbildung erklärt. Das „Berliner-Modell“ oder „Eitingon-Modell“ prägte damit maßgeblich die internationale Ausbildungskultur (Schröter 2008).
Nach Abrahams Tod, am 25. Dezember 1925, brachen die „Diadochenkämpfe“ aus (siehe Schröter 2018). Ein würdiger Nachfolger Karl Abrahams war kaum zu finden. Max Eitingon lehnte ab, da er als Sekretär der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung vorgesehen war und bereits die Leitung der Unterrichtskommission, der Poliklinik und des Verlags innehatte.
1927 wurde Max Eitingon zum IPV-Präsidenten gewählt. Zum ersten Mal hatte er einen eigenen Anspruch auf ein bedeutendes Amt angemeldet, ohne dass er als ‘Diener im Dienste der Sache‘ angetreten wäre. Die Präsidentschaft verlangte ihm eine hohe Integrationsleistung im Spannungsfeld zwischen Freud und der New Yorker Psychoanalytischen Vereinigung ab. Freud wollte die psychoanalytische Ausbildung als eigenständiges Fach verankern, in dem auch Nichtärzte zu Analytikern ausgebildet werden könnten. Dagegen verlangte die New Yorker Vereinigung eine ärztlich-psychiatrische Vorbildung von ihren Mitgliedern. Obwohl sich Eitingon loyal Freud gegenüber für die Ausübung der Psychoanalyse durch „Laien“ einsetzte, brachte er auf dem Innsbrucker Kongress (1927) eine Resolution ein, in der er für psychoanalytische Ausbildungskandidaten ein abgeschlossenes Medizinstudium nachdrücklich befürwortete.
Verbindung zu Freud
Nach Schröter (2004, S. 14 f) fühlte sich Freud in den ersten 10-12 Jahren durch Eitingons Werben mit finanziellen Gaben und aufmerksamen Geschenken bedrängt. Erst nachdem Eitingon ihm gestanden hatte, wie sehr er sich danach sehnte, Teil von Freuds Familie sein zu dürfen, nahm ihn Freud „als Sohn“ an. Er lud Max Eitingon auch in den engsten Kreis seiner Mitarbeiter, in das Komitee, ein. Sigmund Freud hatte allen diesen Getreuen, zu denen Otto Rank, Karl Abraham, Hanns Sachs, Sándor Ferenczi und Ernst Jones gehörten, einen Gemmen Ring geschenkt. Freud schenkte Eitingon seinen eigenen.
Ende 1923 wurde bei Freud Gaumenkrebs diagnostiziert, und er musste sich einer großen Operation unterziehen, bei der der rechte Oberkiefer und der Gaumen entfernt wurden. Max Eitingon war voller Sorge. Im Dezember 1923 erkrankte er selbst an einer Fazialis Parese, mit Schiefstellung der Gesichtsmuskulatur, die der ihn behandelnde Arzt als Identifizierung mit Freud diagnostizierte – wenn auch „lachend“ (Schröter 2001, E 287). Eitingon musste die psychoanalytische Arbeit für 6 Wochen ruhen lassen und war nicht dazu in der Lage, die Korrespondenz mit Freud in gewohnter Regelmäßigkeit fortzusetzen.
Eitingons Mäzenatentum wird zu einer gestaltenden Kraft der psychoanalytischen Bewegung
Die Inflation in der Weimarer Republik zwischen 1922 und 23 wertete den Dollar des Eitingonschen Familienunternehmens so auf, dass Eitingon die psychoanalytische Poliklinik davon mit einem Jahresetat von 16.000−17.000 RM finanzieren konnte. Sein finanzieller Einsatz entließ die Mitglieder der BPV allerdings nicht aus der Verantwortung. Ihre Beiträge und Patientenhonorare betrugen ein Drittel bis ein Viertel des gesamten Budgets.
Damit schuf er die erste psychoanalytische Poliklinik, in der psychoanalytische Therapien durchgeführt, Behandlungsverläufe beforscht und das Behandlungssetting variiert wurde. Außerdem entwickelte er ein Curriculum zur psychoanalytischen Ausbildung, zu der auch erstmals eine Lehranalyse gehörte. Die Ausbildung verband damit Heilen, Forschen und die Lehre zu einem Gesamtkonzept.
1921 trat Max Eitingon in den Internationalen Psychoanalytischen Verlag ein und unterstützte ihn ebenfalls finanziell. Kleine boshafte Spitzen gegen seine Großzügigkeit blieben nicht aus. So spottete der Wiener Psychoanalytiker Eduard Hitschmann: „Die besten Fälle der Analyse sind die Felle des alten Eitingon“ (Sterba 1982, S. 133). Eitingon wollte nicht, dass seine Zuwendungen bekannt wurden, da ein so großzügiges Mäzenatentum wohl kaum „ungestraft“ bleiben konnte – zumindest lies Ernest Jones diese Verbindung zwischen veröffentlichter Wohltätigkeit und mörderischen Impulsen in einer Bemerkung anlässlich seiner Kongressansprache (1922, Berlin) durchklingen. Hier zitiert er die beiden englischen Sprichwörter: „Charity begins at home“ und „Murder will out“ und zieht sie zusammen: „Charity will out“ „Muder beginns at home“ (Jones 1962, S. 111). Obwohl Eitingon sich um Geheimhaltung bemühte, werde seine Großzügigkeit nicht verborgen bleiben. Das Motiv der Geheimhaltung des Mäzenatentums deutete Jones nicht nur als persönliche Bescheidenheit, sondern als Angst, die Gier der Beschenkten bis hin zu mörderischen Inkorporationsimpulsen zu stimulieren.
Max Eitingon folgte mit seiner Großzügigkeit einerseits Freuds Vision einer "analytischen Psychotherapie fürs Volk", andererseits der Familientradition als Mäzen. Vom Oktober 1928 an gingen Eitingons Einkünfte aus dem Familienunternehmen zurück, und andere Geldquellen (wie Patientenhonorare, Mietzahlungen der Vereinigung, Einkünfte aus Lehrkursen und dem Stipendienfonds, sowie Platzmiete von Kontrollanalysanden) wurden aktiviert. Max Eitingon musste auch seine finanzielle Unterstützung des Verlags aufgeben und gehörte sogar zu den Schuldnern der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (Brecht 1985, S. 69).
Max Eitingons Liebe zur Kunst, zur Literatur und zum Theater
Eitingon unterstützte auch in großem Ausmaß Künstler, Exilrussen, Philosophen, Sängerinnen und Schauspielerinnen, die regelmäßig als Gäste und Akteure in seinem Haus verkehrten (Etkind 1996, S. 317, siehe auch Beitrag zu Mirra Eitingon).
Sein eigener Wahlspruch entstammte einem kleinen Porträt des florentinischen Edelmannes Pietro Secco Suardo, gemalt von dem italienischen Meister Giovanni Batta Moroni (1563): „Et quid volo, nisi ut ardeat“ („Ich will nur, dass sie (die Flamme in einer Schale) brennt“) (Dreyfuss 1950, S. 19).
Besonders zugetan war Max Eitingon dem im Pariser Exil lebenden russischen Philosophen Lew Isaakowitsch Schestow (eigentl. Schwartzmann 1866 – 1938). Der „russische Nietzsche“, wurde als Vorläufer von Freud verehrt. Freud selber konnte mit ihm wenig anfangen, aber Eitingon war von ihm begeistert und bis zu seinem Tod mit ihm befreundet (Etkin 1996, S. 95). Seine um 8 Jahre jüngere Schwester war die Psychoanalytikerin und Eitingons Analysandin Fanny Lowtzky. Eitingon besuchte Schestow häufig in Paris und unterstützte ihn auch finanziell. Etkind (1996) berichtet eine von Aron Steinberg, auch Gast im Hause Eitingons, überlieferte Geschichte: Nadescha Plevitzkaja sang aus dem Steigreif eine Ode an den Philosophen, der mit einer Parabel voller Charme und Selbstironie antwortete – die die Plevitzkaja mit begeistertem Applaus und einer Verbeugung aufnahm (S. 317). Im Hause Eitingon ging es damals fröhlich und witzig zu: „...das ganze Gemisch von Unruhe, Zeitmangel, Menschenfülle, Inanspruchnahme, Ermüdung und Belebtheit habe ich bei Eitingons schon öfter mitgemacht und so arg es vielleicht irgendwo anders wäre, so schön war es dort.“ schrieb Anna Freud an Lou Andreas Salomé (Rothe/Weber 2001, S. 82).
Aufgrund seiner knapper werdenden Mittel gab Eitingon im November 1928 das Haus in der Rauchstraße auf und zog in ein kleineres, nach Dahlem, in die Altensteinstraße 26, das der Aktiengesellschaft für Geschäftsumbau aus Leipzig gehörte.
Max Eitingons schwerer Abschied aus Berlin
Die sich zuspitzenden politischen Verhältnisse und der sich ausbreitende und immer aggressiver agierende Antisemitismus, Anfang der 30er Jahre, hatten eine erste Emigrationswelle führender Psychoanalytiker ausgelöst, auf die weitere folgten. Alexander, Sachs, Radó und Horney gingen nach Amerika. Eitingon vermisste vor allem Radó, der als Redakteur der Internationalen Zeitschrift und der Imago kaum zu ersetzen war. 1932 trat Eitingon vom Amt des IPV-Präsidenten zurück. Es ging ihm gesundheitlich schlecht – er erlitt einen Schlaganfall (1932). Anlässlich der „Arisierung“ des Vorstandes der DPG, musste er den Vorsitz den „arischen“ Kollegen, Felix Boehm und Carl Müller-Braunschweig, überlassen. Schröter erklärt die drängende Haltung der beiden mit dem Ressentiment Boehms und Müller-Braunschweigs gegen Eitingon, das nach den Machtkämpfen nach Abrahams Tod zurückgeblieben war (Schröter, 2018). Bei einer ersten Abstimmung zur Arisierung des Vorstands, ausgerecht an Freuds 77. Geburtstag (am 6. Mai 1933), entschied sich die Mehrheit noch für Eitingon als Vorsitzenden. Am 18. November 1933 wurde er abgewählt. Drei Tage nach der Vorstandsumbildung der DPG trat er aus der DPG aus und verfasste diesen Abschiedsbrief:
„Lieber Doktor Boehm,
die Entwicklung der Dinge in unserer Vereinigung hat anscheinend zwangsläufig die Diskussion entschieden, die wir so lang geführt haben. Ich hoffe, Sie werden es zumindest begreiflich finden, dass ich nun einen Schritt tue, der mir sehr schwerfällt, sind doch die letzten 24 Jahre, deren Hauptinhalt die Arbeit für die Psychoanalyse war, mit uns und für unsere Gesellschaft war, wahrscheinlich der wesentlichste und entscheidende Abschnitt meines Lebens.
Ich bitte meinen Namen aus dem Vereinsregister der Mitglieder der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft zu löschen. Meinen Austritt anmeldend, drücke ich allen hiesigen Mitarbeitern, Kollegen und Freunden im Geiste die Hand, allen denen, die durch das mir so lang erwiesene Vertrauen und durch ihre Mithilfe mir die vergangenen Berliner Jahre zu so unvergeßbaren gemacht haben. Ich wünsche jedem Einzelnen von Euch und unserer gemeinsamen Sache hier alles Gute. Ihr M.M. E." (DPG-Archiv).
Am 31. Dezember 1933 verließ Max Eitingon schweren Herzens Deutschland. Er hinterließ der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft und damit dem „Deutschen Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie“ das gesamte Mobiliar des Berliner Psychoanalytischen Instituts.
Wie nah ihm dieser Abschied ging, lassen die an Lou Andreas Salomé gerichteten Zeilen erahnen: „… es ist wirklich ein neues Leben, das man beginnen muss. Ist doch eine ganze alte Welt in Trümmer gegangen“ (25.12.1933, nach Weber 2015, S. 50).
In Jerusalem ließ Eitingon sich ein Haus mit dem gleichen Grundriss wie der seiner Berliner Wohnung, rund um seine Bibliothek bauen - aber er hat das Haus nie bewohnt. Das Familienunternehmen, von dem er finanziell abhängig war, musste schwere Einbußen hinnehmen. Auch sonst hatte er keinen leichten Start.
Seit März 1933 hatte sich bereits Moshe Wulff, ehemaliger Vorsitzender der Russischen Psychoanalytischen Vereinigung (RPV) und Professor für Psychoanalyse und Psychotherapie an der Universität Moskau, dann DPG-Mitglied und Mitarbeiter in dem Simmelschen Sanatorium in Tegel, in Tel Aviv niedergelassen und mit großem Erfolg Seminare für Pädagogen zur Einführung in die Psychoanalyse abgehalten (Liebermann 2015, S. 97). Ende September 1933 gründeten Max Eitingon, Moshe Wulff, Ilja Schalit, Anna Smeliansky und Walter Kluge die Palästinensische Psychoanalytische Vereinigung und Eitingon kündigte die Gründung eines psychoanalytischen Instituts in Jerusalem an. Außerdem hatte Eitingon sich Hoffnung auf einen Lehrstuhl für Psychoanalyse an der Hebräischen Universität gemacht und wurde nun davon überrascht, dass Freud bereits eine Kandidatur für Moshe Wulff unterstützt hatte. Wulff eröffnete zusammen mit David Idelson und Martin Pappenheim Ende 1937 das Eder-Institut in Tel-Aviv, mit „Kinderanalyse“ als Schwerpunkt.
Spannungen zwischen diesen beiden prominenten Vertretern der Psychoanalyse, Eitingon und Wulff, konnten erst 1939 durch Vermittlung von Anna Smeliansky und Martin Pappenheim neutralisiert werden, und nun bemühten sich beide um die Einführung psychoanalytischer Lehrveranstaltungen an der Hebräischen Universität.
Fast ein Jahr, nachdem Eitingon ein letztes Mal als Vorsitzender der DPG in Berlin bestätigt worden war, am 5. Mai 1934 (ein Tag vor Freuds 78. Geburtstag), fand die Gründungssitzung der Palästinensischen Psychoanalytischen Vereinigung (Chewrah psychoanalytith b’Eretz Israel) im Jerusalemer Psychoanalytischen Institut statt. Eitingons erste Ausbildungskandidaten waren: Daniel Dreyfuss, Margarethe Brandt, Ellen Simon und Erich Gumbel.
Obwohl Eitingon das Institut nach dem Berliner Vorbild aufbauen wollte, kommt Liebermann (2015, S. 104) zu der Einschätzung, dass das nicht gelang. Das Berliner psychoanalytische Magnetfeld hatte die bedeutendsten Kliniker und Theoretiker angezogen – dagegen war das damalige Jerusalem eher provinziell. Außerdem verbot die britische Mandatsregierung in Palästina die Laienanalyse bei Erwachsenen. Die Persönlichkeit Eitingons scheint auch eine Rolle gespielt zu haben: zwar galt er als glänzender Organisator – aber nicht als guter Therapeut – trotz seines Charismas und seiner Präsenz in den Behandlungsstunden oder gar Theoretiker der Psychoanalyse (Liebermann 2015, S. 111 u. S. 105). Eitingons Identität speiste sich vor allem aus seinem Mäzenatentum. Selbst unter den erschwerten Bedingungen seines Exils beeindruckt die Liste der Organisationen, die er unterstützte (hier nur ein Ausschnitt): das jüdische Kunstmuseum Bezalel, dessen Präsident er lebenslang war, erhielt er – weitgehend im Alleingang, das Konservatorium für Musik und Schauspielkunst, die Gesellschaft jüdischer Schriftsteller, den Freundeskreis des Theaters Habimah, den Jüdischen Nationalfonds, die Jewish Agency, die Loge B’nai B’rith von Palästina, Waisenhäuser, Heime für eingewanderte Kinder, für Söhne unterprivilegierter orientalischer Familien oder Behinderte, Schulen für streunende jüdische Kinder, die Anti-Tuberkulose-Liga, das Blinden-Institut, Taubstummengesellschaft, eine psychiatrische Anstalt und Institutionen des Jischuw. Er spendete Immigranten Geld, half ihnen bei ihren ersten Schritten im Land, unterstützte Forscher, Künstler und eingewanderte Studenten und war in verschiedenen Gremien aktiv: bei den Vereinigten Ärzten in Palästina, im Komitee für Kinder und Jugendhilfe im Jüdischen Nationalrat, der Unterstützung jüdischer Flüchtlinge aus Europa und weiteren universitären Einrichtungen (Liebermann 2015, S. 108). Finanziell war er allerdings weitgehend von seinem in New York agierenden Familienunternehmen abhängig.
Eitingons Einfluss schwindet
Eitingon hielt die Verbindung zur internationalen psychoanalytischen Vereinigung und reiste zu den Kongressen nach Luzern (1934), Marienbad (1936) und Paris (1938) und nutzte die Anlässe um Sigmund und Anna Freud in Wien zu besuchen, befreundete Kollegen und Mirras Angehörige in Paris.
Zwar versuchte Eitingon die Geschäfte der IPV-Leitung, als ihr Expräsident mitzugestalten, wurde aber von Ernest Jones, dem amtierenden Präsidenten und Anna Freud ins zweite Glied gedrängt. Besonders enttäuscht hatte ihn der Bedeutungsverlust der Internationalen Unterrichtskommission, die ursprünglich die oberste Entscheidungsinstanz bei Fragen war, die die Ausbildung betrafen (Schröter 2004, S. 30).
Spionagevorwurf und Judenverfolgung
Als international agierendes Unternehmen, das zwischen den verfeindeten Ost-West-Blöcken Handel trieb, waren Mitglieder der Familie Eitingon immer wieder von beiden Seiten dem Vorwurf ausgesetzt, Spione und Kollaborateure zu sein. Max Eitingons Vetter Motty musste sich mehrfach gegen Verdächtigungen des FBI wehren, und Max Eitingon wurde der Komplizenschaft bei der Entführung des weißrussischen Generals Jevgeni Karlovitsch, Miller durch den sowjetischen Geheimdienst angeklagt. Die schlagfertige Sängerin Nadescha Plevitzkaja, die er auch finanziell unterstützt hatte, war mit General Nikolai Skoblin verheiratet. Skoblin wurde verdächtigt, zusammen mit Miller eine, gegen die Sowjetunion gerichtete Spionageorganisation von Veteranen im Pariser Exil aufgebaut zu haben. Wahrscheinlich war aber Skobin ein Agent Stalins und lies Miller verschwinden. In einem spektakulären Prozess, 1937 in Paris, wurde Nadescha Plevitzkaja als Komplizin ihres Mannes, der nicht gefasst werden konnte, verhaftet und zu einer hohen Strafe verurteilt - ohne dass ihre Schuld oder Unschuld eindeutig geklärt wurde. Sie starb 1944 im Gefängnis von Rennes. Als ihr Gönner war Eitingon in diesen Prozess verwickelt. Er wurde verdächtigt, dass sein Mäzenatentum politisch motiviert sei – dabei war seine liberale und pazifistische Gesinnung allgemein bekannt (Liebermann 2015, S. 108 ff, Draper 1997). Erst von 1941 an wurde Eitingon Mitglied von der von Arnold Zweig gegründeten Liga V („V“ wie Victory), einer Organisation zur Unterstützung der Roten Armee und des sowjetischen Volkes im Kampf gegen die Faschisten (Liebermann 2015, S. 113, Rothe/ Weber 2001, S. 703).
Als die Nationalsozialisten im März 1938 Österreich besetzten, fürchtete Eitingon – wie auch Fenichel in Prag – um das Leben Freuds und seiner Familie. Im Sommer 1938 erlitt Eitingon nach dem IPV-Kongress in Paris einen schweren Herzanfall und litt seit dem unter Angina Pectoris. Es erschütterte ihn, als in Leipzig die Ez-Chaim-Synagoge in der Progromnacht vom 9./10. November 1938 in Flammen aufging und das Eitingon-Krankenhaus konfisziert wurde.
Die britische Mandatsregierung von Palästina schloss im April 1939 seine Grenzen für europäische Juden auf der Flucht und der Bürgerkrieg im Land vernichtete die Hoffnung auf das Gelingen eines friedlichen Neuanfangs.
Das traurige Ende
Eitingon lebte in enger innerer Verbindung mit Freud und wollte, im August 1939, als es ihm schlechter ging, sofort nach London reisen. Anna Freud verbot es ihm. Als Freud im September starb, versank Eitingon in eine tiefe Depression und brauchte viele Wochen, um Anna schreiben zu können.
Durch Zufall geriet der Brief Freuds vom 10. Februar 1937 an Arnold Zweig in Eitingons Hände. Darin äußerte sich Freud lieblos und abschätzig über ihn und vor allem über Mirra (siehe "Mirra Eitingon"). Eitingon war darüber so verletzt, dass er, nachdem er eine Kopie gefertigt hatte, den Originalbrief zerriss (Schröter 2004, S. 32 f).
An seinem Lebensende waren Eitingons finanzielle Mittel völlig erschöpft. Er musste seinen kostbaren Besitz zum Verkauf anbieten und bemühte sich darüber hinaus verzweifelt um Darlehen bei verschiedenen Privatpersonen, z.B. bei Arnold Zweig.
Anlässlich seines 60. Geburtstag würdigte sein Freund Arnold Zweig in der Palestine Post, (Friday, June 27, 1941) Max Eitingons Lebenswerk, seine menschlichen Qualitäten, seinen Takt, seine Bescheidenheit und seine Großzügigkeit. Er wurde als einer der größten lebenden praktizierenden Psychoanalytiker geehrt. Die Feier im Institut musste allerdings abgesagt werden, weil Max Eitingon im Krankenhaus lag. Er wurde nur 62 Jahre alt und liegt auf dem Friedhof am Ölberg begraben.
Auf Mirras Initiative hin stellte die Palästinensische Psychoanalytische Vereinigung einen Gedenkband für Max Eitingon zusammen: „Max Eitingon in memoriam“.
Literatur:
Brecht, K., Friedrich, V., Hermanns, L. M., Kaminer, I. J., Juelich, D. H. unter Mitwirkung von Lockot, R. (1985): "Hier geht das Leben auf eine sehr merkwürdige Weise weiter..." Zur Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland. Hamburg. Kellner
Draper, T. (1997). Das Rätsel des Max Eitingon. Psyche – Z Psychoanal., 51(5): 428 - 456.
Dreyfuss, D. (1950) vorgetragen in der Gedenkfeier der Chewrah Psychoanalytith b’Eretz Israel, 29.Juli, 1944. in: Wulff (Hrsg): Max Eitingon in memoriam. Israel Psycho-analytical Society, Jerusalem
Etkind, A. (1996): Eros des Unmöglichen. Die Geschichte der Psychoanalyse in Russland. Leipzig, Gustav Kiepenheuer Verlag.
Ginor, I. und Remez, G. (2012): Cherchez la femme und der sowjetische Geheimdienst.
13. September 2012 – 26 Elul 5772. haGalil.com Jüdisches Leben online http://www.hagalil.com/2012/09/sowjetischer-geheimdienst/
Ginor, I. und Remez, G. (2015): "Meine Mirra, meine Welt". Mirra Birens-Eitingon als Schlüssel zur Persönlichkeit ihres Mannes Max Eitingon. In: Luzifer-Amor Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse Heft 55 (28. Jg. 2015) (S. 7–38).
Jones, E. (1943): Obituary. Max Eitingon. Int J.o.Psychoa. Vol. 24, 190 – 192
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English Chronicle
1881 26th June: Birth of Morduch (Markus) Eitingon in Mohilew (Mogilew) in White Russia. His first name is later changed to the German “Max”. Parents: Chaim Eitingon (1895-1932) and Alexandra (1861-1929). Three siblings: Waldemar (1884-1919), Fanny (1887-1965) and Esther (1893-1968).
1893 The family moves to Leipzig, where Chaim Eitingon relocates his fur trading business. Having acquired great wealth, he donated in the 1920s a synagogue and the Israelitic Hospital (“Eitingon Hospital”) in Leipzig.
Before 1897 Eitingon’s father acquires the Austrian
citizenship for himself and his family; registers in Buczacz (Galicia)
Until 1900 Max Eitingon visits the II. Realschule (secondary school) in Leipzig. He breaks off at the school because of his tendency for stammering.
1900 Inscription as “studiosus cameralis” in Leipzig. In the autumn, he transfers to the University of Halle; from autumn 1901 again in Leipzig.
1902 Registration as medical student in Heidelberg (until summer 1903), afterwards at the University of Marburg until summer 1904.
1904 Transfers to the University of Zurich. Eitingon specializes in psychiatry; works at the psychiatric University Hospital (“Burghölzli”),where he is sub-assistant 1906-1908. In the winter 1904/05 he gets to know Freuds work through the circle around C. G. Jung.
1906 6th December: First letter to Freud, start an exchange of letters that continues until Freud’s death.
1907 In January, journey to Vienna: first encounter with Freud, guest at the Psychological Wednesday Society.
1909 Doctorate in Zürich with a thesis Über die Wirkung des Anfalls auf die Assoziationen der Epileptischen (On the effect of the seizure on the epileptic’s associations).
October/November: Visit in Vienna, analysed by Freud during 10-12 night walks.
1909 Mid November: Move to Berlin
1910 Involved in the re-constitution of the Berlin Psychoanalytic Association (founded 1908) as local branch of the International Psychoanalytic Association
1913 20th April: Marriage to Mirra (1877-1947). The marriage remains without children.
1914 Volunteers to the Austrian army. As army physician he is stationed in Prague, Igló and Kassa (North Hungary). From 1916 consultant in a psychiatric observation unit of the Royal Hospital in Miskolcz.
1918 11th August: receives the “Goldenes Verdienstkreuz mit Krone am Band der Tapferkeitsmedaille” ( a military decoration)
after 1918 Becomes Polish citizen.
1919 Co-opted into the “Committee”, the informal leading circle of the IPA.
1920 Opening of the Berlin Poliklinik (Psychoanalytic Clinic), whose director Eitingon becomes and which is mainly financed by him. The clinic’s first reports on are Eitingon’s most important contribution to the psychoanalytic literature.
He raises $ 5000 for the Internationaler Psychoanalytischer Verlag (International Psychoanalytic Publishing House); manages the Trust founded with this money. From now on, Eitingon makes repeated efforts to support the ailing publishing house, through fund raising and donations by himself, e.g. at Freud’s 70th and 75th birthdays.
1920 4th July: In his letters to Eitingon, Freud starts to address him as “Dear Max”. Later he characterises their relationship as “our relationship, stretched from friendship to sonship”.
1922 Secretary of the Berlin Psychoanalytic Association.
1923 Conversion of the Berlin Psychoanalytic Clinic (Poliklinik) to the Berlin Psychoanalytic Institute, under Eitingon’s chairmanship. Formulation of regulations for teaching and training under his overall charge.
1924 Secretary of the IPA, with Karl Abraham as President.
Because of the crisis with Rank, he becomes the chair of the psychoanalytic publishing house and editor of the Internationale Psychoanalytische Zeitschrift.
1925 Founding of the International Teaching Commission. As its chairman, Eitingon becomes the leading expert for issues of psychoanalytic training within the IPA.
After Abraham’s death he acts up as President of the IPA
1927 President of the IPA. Efforts for a standardized training of analysts within the IPA (“Eitingon Commission”), including the battle for lay analysis.
1929 Revised Regulations for teaching and training of the DPG.
1930 Chairman of the German Psychoanalytical Society (DPG)
1931 50th birthday, peak of his professional career. He is paid tribute to in the jubilee volume Zehn Jahre Berliner Psychoanalytisches Institut (Poliklinik und Lehranstalt) (10 years Berlin Psychoanalytic Institute (Clinic and Training Institute)), which is also a Festschrift for Eitingon.
1931/1932 Crises and loss of power: As a consequence of the world economic crisis, Eitingon has to stop his financial support of the Berlin Psychoanalytic Institute. The psychoanalytic publishing house comes near to bankruptcy and is re-organised without him. Freud brings the editing office of the Internationale Zeitschrift back to Vienna. Eitingon loses his editing role. He falls ill with a paralysis of his left arm.
1932 On Eitingon’s suggestion, the decision is made that the American Psychoanalytic Association changes to a national Federation that heads the local American groups.
1932 Eitingon resigns as IPA President
1933 6th May: The attempt to force the DPG into line with the Nazis, i.e. to expel the Jewish members, does not get a majority in an extraordinary general assembly.
September: Founding of the Palestinian Psychoanalytic Association, during a journey to Jerusalem.
1933 18th November: Resigns as chairman of the DPG, shortly afterwards leaves the DPG. Towards the end of the year Eitingon leaves Germany forever.
1934 April: Settles in Jerusalem. The choice of his new residence, which went directly against the wishes of Freud and the head of the IPA, reflects Eitingon’s lifelong connection with Zionism.
Opening of a Training Institute of the Palestinian Assocation.
1938 Heart attack after the IPA Congress in Paris. Ill health from then on.
1943 30th July: Eitingon dies in Jerusalem.
Source: Sigmund Freud und Max Eitingon: Briefwechsel 1906-1939, edited by Michael Schröter, 2 volumes, Tübingen (edition diskord) 2004.
(Translated by Wilhelm Skogstad)
Max und Mirra waren in tiefer Liebe miteinander verbunden. Für ihn war seine Frau die „Welt“ und der „Frieden“ (russ. „Mir“). Er nannte sie „Mirr“ (Ginor & Remez 2012, S. 7). Mirra war von kleiner Statur, trug ihre Haare hoch aufgetürmt und war lebhaft und temperamentvoll. Sie liebte eine ausgesuchte Garderobe und war berühmt für ihre literarischen und gesellschaftlichen Soireen. Die englische Psychoanalytikerin Joan Rivière fand sie „sehr pariserisch“ (Schröter 2007, S. 418). Als Max und Mirra heirateten, hielten die Leute den strahlenden Max und seine schöne Mutter für das Brautpaar und Mirra für ein Kind aus einer früheren Beziehung, obwohl sie vier Jahre älter war als Max. Das erzählte Mirra Lou Andreas Salomé, die häufig die Gastfreundschaft im Hause Eitingon genoss (Rothe & Weber 2001, S. 424). Mirra machte sich wohl keine Illusionen darüber, wem die Liebe ihres Max auf einer tieferen seelischen Ebene galt.
Mirra Jakowlewna Burovskaya Brodskaya
Mirra Eitingon (1877-1947) wurde als Mira Jakowlewna Burowski (auch Mirra Burovskaya) 1877 in Jekaterinodar (Ekiaterinodar, heute Krasnodar), einer Provinzhauptstadt im südlichen Russland, als Tochter von Sofia Abramowna, geb. Maliner (*1853), und Jakow Moisejewitsch geboren. Ihr Vater, ein Kaufmann, starb unter ungeklärten Umständen in den Nachkriegswirren um 1920. Ihre Mutter lebte bis 1925 teils in Berlin und teils bei ihren anderen Töchtern in Paris. Ihr Todesdatum ist nicht ermittelt. Von Maria/Manja, Mirras älterer(?) Schwester, ist überliefert, dass sie zunächst in Moskau lebte. Dann taucht ihr Name 1937 in Verbindung mit Fanny Lowtzky auf, bei der sie sich in Paris in analytische Behandlung begab. Leah/Jelisaweta (Lelja), eine jüngere Schwester, war mit Leonid Raigorodsky verheiratet, einem Ingenieur und Kaufmann. Auf der Flucht vor den Bolschewiken gelangten sie über die Türkei nach Frankreich und ließen sich im Januar 1921 dort nieder. Lelja war durch die Schrecken der Flucht schwer traumatisiert und Mirra und Max machten sich ihr Leben lang Sorgen um sie (Ginor & Remez 2020, S. 154). 1937 tauchte Leonid Raigorodsky als Zeuge im Prozess gegen Nadescha Plevitzkaja auf (siehe Beitrag zu Max Eitingon) und wurde u.a. zu Max Eitingons Rolle als Mäzen befragt (Rice 2017). Die Familie war mosaischen Glaubens.
Nach dem Schulabschluss wurde Mirra verheiratet. Ihr Mann, sein Vorname ist nicht bekannt, gehörte zum Brodski-Clan. Die Familie war im 19.Jh. durch ihre Zuckerraffinerien mit ihren Zentren in Kiew und Odessa sehr reich geworden und dominierte ¼ der Zuckerproduktion des Russischen Reichs. Als Philanthropen waren sie an der Finanzierung von jüdischen Krankenhäusern, Synagogen und verschiedenen Bildungseinrichtungen u.a. in Kiew maßgeblich beteiligt (Meir) und erinnern damit an Chaim Eitingons Mäzenatentum in Leipzig (siehe Beitrag zu Max Eitingon).
Mirras und Brodskis Sohn Viktor („Vitja“) wurde geboren. Mirra war in ihrer Ehe unglücklich und verließ ihren Mann (um 1902). Ihren Sohn musste sie in Baku zurücklassen. Sie sah ihn erst im Herbst 1913 nach ihrer Hochzeit mit Max Eitingon, die am 20. April 1913 stattfand, wieder, als sie zu einem Besuch nach Russland fuhr. Da Vitja künstlerisch begabt war, bot Max Eitingon ihm an, eine Ausbildung an der Kunstakademie in Belgien zu finanzieren. Was aus Viktor geworden ist, ist ungewiss. Auch eine 1921 von Eitingon in Auftrag gegebene Suchaktion verlief erfolglos. Angeblich soll Viktor von den Bolschewiken ermordet worden sein. Ginor & Remez entdeckten aber auf einer Passagierliste eines Schiffs, das am 1. Februar 1923 weißrussische Flüchtlinge über die Türkei nach New York brachte, einen Maler namens Viktor Brodsky, geb. 1898 in Jekaterinodar, der sich auch Piatakoff nannte. Ob es sich bei diesem „mosaischen“ „Textildesigner“, wie auf der Passagierliste vermerkt, um Viktor Brodsky, Mirras erstes Kind handelte, konnte bisher nicht geklärt werden. Dieser Viktor Brodsky heiratete 1927 in einer katholischen Kirche in Manhattan (2012, S. 10, S. 29).
Nach ihrer Trennung von Brodski heiratete Mirra den Juristen und Journalisten Boris Khariton (auch Chariton), dessen Frau gestorben war. Er brachte zwei Töchter mit in die Ehe: Lida (5 Jahre) und Anya (ungefähr 3 Jahre) (Hariton). Boris Khariton stand im Zentrum der jüdisch-kulturellen Aufbruchsbewegung. Er war Mitherausgeber einer regierungskritischen Zeitung, und in dieser Position durfte sich die Familie in St. Petersburg niederlassen, was Juden eigentlich nicht gestattet war (Ginor & Remez 2012, S. 10).
Am 14. Februar 1904 brachte Mirra ihren zweiten Sohn Juli („Yuli“), auch„Lusinka“ genannt, zur Welt (s.u. weitere Ausführungen).
Neben weiteren schweren Einschränkungen war es Juden auch nicht erlaubt, Schauspieler zu werden. Mirra bewunderte Eleonora Duse und wagte, ohne Ausbildung, den Schritt auf die Bühne. 1906 trat sie in Sommertheatern der Petersburger Vororte auf. Sie wurde protegiert von dem aufstrebenden Autor Josef Perlemann, einem Kollegen von Boris Khariton, der sich nach einer Tschechow-Figur Ossip Dymow nannte. Als Referenz an ihren Förderer nannte sich Mirra nach einer Figur aus seinem Werk „Lydia Birens“.
Ihre Kritiken waren so gut, dass sie auch an innerstädtische Bühnen engagiert wurde.
Boris Khariton, der in seiner Zeitung immer wieder die antisemitischen zaristischen Gesetze anprangerte, wurde inhaftiert. Währenddessen ging Mirra eine Liebesbeziehung zu Ossip Dymow ein. Als Dymow aus politischen Gründen im Mai 1907 aus St. Petersburg fliehen musste, trafen sie sich ein letztes Mal in einem Eisenbahnwaggon. Boris Khariton überraschte sie und schoss auf Dymow. Er feuerte vier Mal aus seiner Pistole, aber keiner wurde verletzt. Trotzdem kam es zu einem großen Skandal. Mirras Ehe mit Boris Khariton war gescheitert und Mirra musste auch ihren zweiten Sohn bei seinem Vater zurücklassen (Ginor & Remez 2012, S. 11 ff).
Dieses Drama im Eisenbahncoupé wurde der Stoff zu Dymows neuem Theaterstück: „Nju: Eine Alltagstragödie“. Es wurde ein großer Erfolg und sogar Max Reinhardt in Berlin, der mit Dymow befreundet war, inszenierte es in den Berliner Kammerspielen. 1924 wurde es in Berlin von Paul Czinner mit Elisabeth Bergner, für die Mirra in ihrer Berliner Zeit schwärmte, verfilmt (Rothe & Weber 2001, S. 424).
Dymow, der 1913 in die USA geflohen war, lebte Anfang der 30er-Jahre zwischenzeitlich in Berlin und verfasste mit Adolf Lantz, der zum Freundeskreis der Eitingons gehörte, Drehbücher für deutsche Filme (Ossip_Dymow).
Für Mirra hatte die Begegnung mit Dymow tragische Folgen: bei dem Gedanken an Khariton hatte sie Angst. Ginor& Remez vermuten, dass Mirra schwanger war und das Kind abtreiben ließ. Nun litt Mirra an Unterleibsbeschwerden und konnte keine Kinder mehr bekommen.
Mirra ging nach Moskau. Als erste jüdische Schauspielerin spielte sie im Kaiserlichen Maly Theater und an Konstantin Stanislawskis berühmtem Moskauer Künstlertheater. Stanislawski feierte seinen größten Erfolg mit Maurice Maeterlincks Theaterstück „Der blaue Vogel“, einem Märchen, in dem zwei Kinder auf eine Reise auf der Suche nach einem blauen Vogel geschickt werden. Im Wechsel mit anderen Schauspielerinnen spielte Mirra darin die Hauptrolle (1908).
In Rollen als jugendliche Heldin war sie berühmt geworden. Mit ihren 33 Jahren wurde nun die Diskrepanz zwischen biologischem Alter und Theaterrolle zu groß. 1910 lief ihr Vertrag am Künstlertheater aus und wurde nicht verlängert. Mirra litt an Tuberkulose und war schwer depressiv.
Im März 1909 vermittelte ihr ihre Freundin Anna Smeliansky, eine enge Freundin Max Eitingons, einen Termin zu ihrer „Tröstung“ bei diesem jungen russischstämmigen Arzt, der gerade die Möglichkeit auslotete, nach Russland zurückzukehren. Diese erste Begegnung mit Max Eitingon hinterließ in Mirra keinen bleibenden Eindruck. Max Eitingon war ein gehemmter, schwer stotternder junger Mann und sie trauerte noch um ihre beendete Karriere und ihre verlorenen Söhne. Zur Ausheilung ihrer TBC suchte Mirra mehrere Sanatorien in Italien, in der Schweiz und im Schwarzwald auf.
Am 4. Januar 1911 schrieb Max Eitingon an Mirra seinen ersten Brief. Er warb um sie, schickte ihr Blumen und Süßigkeiten. Sie war erst nach über einem Jahr, im April 1912, dazu bereit, ihn zu treffen. Die beiden heirateten ein Jahr später. Mirra besuchte ein letztes Mal Moskau. Trotz ihres Bemühens, ihre beiden Söhne wiederzusehen, gelang es ihr nur, Viktor zu treffen (Ginor & Remez 2012, S. 11 - 14).
Ihre erste, aufwändig renovierte großzügige Wohnung in Berlin lag in einem stattlichen Mietshaus in der Güntzelstraße 2 in Berlin Wilmersdorf (1912 bis 1921).
Mit dem Ausbruch des 1. Weltkriegs und dem Einrücken Max Eitingons als Militärarzt der Reserve meldete sich Mirra als Krankenschwester, ebenfalls in der österreichischen Armee. Meistens konnten sie ihren Dienst gemeinsam an der russischen Front verrichten (Ginor & Remez 2012, S. 26).
Nach dem Krieg, Anfang der 20er-Jahre, war Deutschland Hauptziel russischer Geflüchteter. Oktoberrevolution, Hungersnöte und Bürgerkrieg lösten diese erste Migrationsbewegung des 20 Jh. aus. Ca. zwei Millionen Menschen verließen das Russische Reich. In Berlin wurden Anfang der 20er-Jahre mehr als 400.000 Exilanten gezählt, die vorwiegend um den Nollendorfplatz, den Prager Platz und um den Bahnhof Zoo herum lebten (Verein).
Mirra und Max waren Anfang Mai 1921 in ein sehr schönes zweistöckiges Haus in der Rauchstraße 4 in Berlin-Tiergarten gezogen. Sie lebten dort bis November 1928. Für die englische Besucherin und Analysandin von Karl Abraham, Alix Strachey, war es das erste „echte“ Haus und sie genoss es, die langen Reihen der Buchrücken zu betrachten, und bewunderte die geschmackvolle Einrichtung. An ihren Mann James schrieb sie: „Ich habe den Verdacht, dass der Mann Geschmack hat – oder vielleicht seine Frau“ (Meisel & Kendrick 1986, S. 144, eigene Übersetzung).
Der zweite Stock war Gästen vorbehalten. Für Sigmund Freud stand immer ein Zimmer zur Verfügung. Er nutzte es aber nur vom 23. bis zum 28. September 1922, anlässlich des Internationalen Psychoanalytischen Kongresses, der ganz in der Nähe, im Haus des Jüdischen Brüdervereins in der Kurfürstenstr. 115/116 stattfand. Die „Gradiva“, eine kleine Stele auf dem Mittelstreifen der Straße, erinnert heute an dieses besondere Ereignis und die Geschichte, die sich in den folgenden Jahren hier abspielte.
Sigmund Freud eröffnete das Eitingonsche Gästebuch mit den Worten: „Ich kann kein einfaches, freies Urteil über die Gastfreundschaft abgeben, da ich hier wie ein Vater unter seinen geliebten Kindern gelebt habe. 28. September 1922, Sigm Freud“ (Bonhams 2013, eigene Übersetzung). Anna Freud war häufig Gast im Eitingonschen Haus. Sie erwog sogar, sich mit einer psychoanalytischen Praxis in Berlin niederzulassen und an der Berliner Poliklinik mitzuarbeiten. Eitingon unterstützte einerseits ihren Wunsch nach stärkerer Unabhängigkeit vom häuslichen Wiener Milieu, andererseits lehnte er ihr Ansinnen ab, Mitglied der Vereinigung zu werden, da sie noch keinen eigenständigen Vortrag halten konnte, sondern nur aufgrund einer Übersetzung Mitglied werden wollte. Gerade in dieser Zeit erkrankte Freud an Krebs und Anna entschied sich endgültig zum Bleiben in Wien (Rothe & Weber 2001, S. 873).
Auch Joan Rivière genoss und kommentierte die Eitingonsche Gastfreundschaft. „Offenbar haben sie grenzenlos Geld. Das Haus war (…) so ungewohnt mit einem Garten nach hinten hinaus – Glasveranda – aber alles ganz neu und großartig, modern-geschmackvoll – herrliche Gemälde, Wandtäfelung, chinesische Tapete und passende Möbel, schöne Bücherschränke, Bilder, Teppiche, Kunstgegenstände – und wunderbares Essen. Wir waren zu acht bei Tisch, eine zeremoniöse Angelegenheit, die beiden Freuds, Vater und Tochter, ich und 3 Wiener Mitglieder, darunter eine Ärztin, und Eitingon und Frau. Eitingon war zu mir sehr nett und aufmerksam – oh, ich vergaß, es war auch eine gewisse Frau Lou Salomé dabei. Eine ältere Frau, die in ihren jungen Jahren die einzige Frau war, die Nietzsche je geliebt hat. Sie hat sich nun der Psychoanalyse zugewandt - sie ist eine wunderbare Intellektuelle und zweifelsohne eine große Persönlichkeit. Es war interessant, sie kennen zu lernen (Schröter 2007, S. 418; Rivière 1991, S. 40).
Lou Andreas Salomé verbrachte im Eitingonschen Haus mehrere Monate (Oktober 1922 bis Ende Januar 1923 und Februar 1925 bis März 1925). Hier fand sie etwas von ihrer russischen Herkunftskultur.
Mirra führte einen intellektuellen und künstlerischen "Salon". Hier trafen sich nicht nur exilrussische Künstler und Intellektuelle wie die berühmte Sängerin Nadescha Plevitzkaja, die "Kursk-Nachtigall" und ihr Mann, der russische Offizier Nikolai Skoblin, der Philosoph Lev Shestov und der Kulturphilosoph Michail Gerschenson, sondern auch der italienische Dramatiker Luigi Pirandello, der Wiener Musiker und Komponist Rudolf Reti, der polnische Komponist Leopold Godowsky und viele andere, die sowohl Mirra als auch Lou kannten (Bonhams 2013). Abgesehen von Theodor Reik und Walter Schmideberg tauchen in dem Gästebuch der Eitingons keine Namen von Psychoanalytikern auf. Sicher gab es aber auch Gäste, für die sich kein Eintrag im Gästebuch findet - wie die Psychoanalytikerin Salomea Kempner - obwohl sie im Salon verkehrten (Ludger M. Hermanns danke ich für diesen Hinweis).
Einige der Gäste wurden von Max Eitingon finanziell unterstützt, wie z. B. Nadescha Plevitzkaja (siehe Max Eitingon) und Michail Gerschenson (Ginor & Remez 2012, S. 28).
Für Mirra waren die Begegnungen mit Exilrussen oft ambivalent - denn ihre künstlerische Karriere war beendet, sie hatte zwei Ehemänner und deren soziale Kreise in Russland verlassen und zwei Söhne verloren.
Lou Andreas Salomé hatte ein tiefes Verständnis für Mirra, die oft als artifiziell „leidend“ geschildet wird (Rothe & Weber 2001, S. 559). Mirra sei tatsächlich elend und versuche ihrem Zustand mit den Mitteln des Theaters Ausdruck zu verleihen. Als Beispiel gibt Lou einen Dialog zwischen Max und Mirra Eitingon in ihrem Brief vom 14. Februar 1925 an Anna Freud wieder: „Mirra hat sich zu achtlos untermalt. E: „Was hast Du für Augen - !?“ Mirra lakonisch: „Geschmierte.“ Er lachend: „Aber solche Ränder gibt es ja nicht, bis in die Schläfen.“ Mirra achselzuckend: „Nun, wenn schon! Ich bin ja wirklich bis in die Schläfen elend“ (Rothe & Weber 2001, S. 407). Vielleicht dachte Mirra ja an ihre Rolle auf der Suche nach dem „blauen Vogel“, die auch im Märchen ambivalent ausging; denn nach langer erfolgloser Suche kehrten die Kinder heim und fanden den Vogel dort in einem Käfig eingesperrt (Theatertexte).
Typmäßig war Mirra wohl das genaue Gegenteil von Anna Freud, die gelegentlich ärgerlich auf sie reagierte (Rothe & Weber 2001, S. 559). Der als nüchtern und norddeutsch geltende Karl Abraham zog sich von Max Eitingon nach dessen Heirat mit Mirra zurück, und auch Freud mochte sie nicht. „Sie hat die Natur einer Katze, die ich ja auch nicht mag. An dem Charme und der Grazie einer solchen hat sie ihr gutes Teil, nur ist sie kein allerliebstes Kätzchen mehr, sondern älter als er und abgeschmackt in der Handhabung ihrer Lebensreste. Was echt menschlich an ihr war, ist in ihrer früheren Existenz steckengeblieben oder dort aufgebraucht worden. Sie war eine angebliche Schauspielerin. Hatte einen Mann und zwei Söhne, einer verstorben, der andere glaube ich in Sibirien für sie unauffindbar. Unser Freund hat sie sicherlich auf Grund neurotischer Lebensbedingungen erworben. Sie hat nicht die leiseste Sympathie für seine Interessen, Freunde, Ideale; was sie mir bezeigt, ist geheuchelt. Sie ist eifersüchtig auf all das, weil es sie im ausschließlichen Besitz seiner Person stört. Ich weiß nicht, ob er ihr mehr bedeutet als der Portier, der den Zugang öffnet zu allem möglichen sinnlosen Luxus und zur Befriedigung ihrer sonderbaren Launen und Vermeidungen. Muß so ein altes Weib einen Kasten haben mit genau hundert Paar Halbschuhen, wie sie es mir einmal demonstriert hat?“ (Freud an A. Zweig 10.02.1937 nach Schröter 2004, S. 977).
Freuds Urteil über Mirra ist drastisch und vernichtend. Vermutlich entsprang es eher seinen eigenen Verfügungsansprüchen an Max und anderen Motiven, die wenig mit Mirras Person zu tun hatten.
Als Max Eitingon den Brief zufällig nach Freuds Tod las, war er zutiefst verletzt. Auch über sich selbst musste er lesen, dass er Freud zwar seit 30 Jahren treu anhänge, aber dass Freud meine, immer noch nicht sehr viel über ihn zu wissen. Max Eitingon hat den Originalbrief zerrissen, eine Kopie angefertigt und sie zusammen mit den anderen Briefen Anna Freud übergeben.
Dass Mirra die südeuropäische Wärme bevorzugte, mag nicht allein am Wetter gelegen haben, sondern auch an dem Mangel an Wohlwollen und Freundlichkeit in ihrer Berliner Welt. Manche Begegnungen mit ihrer russischen Vergangenheit mögen noch dazu beigetragen haben, dass sie sich vorzugsweise in Südeuropa aufhielt - denn sowohl Boris Khariton als auch Ossip Dymow lebten zeitweise in Berlin und wir wissen nicht, ob Mirra beiden unbefangen begegnen konnte.
Es war vor allem Mirra, die Max zur Emigration aus Deutschland drängte. Durch die jüdischen intellektuellen Kreise um Boris Khariton, die gegen die judenfeindliche Politik der Zaren protestiert hatten und dafür schwer büßen mussten, und nicht zuletzt durch die Einschränkungen, die sie selbst erlebt hatte, war sie politisch hochsensibilisiert.
Die finanziellen Verhältnisse Eitingons verschlechterten sich zunehmend. Mirra versuchte Max zu entlasten, ihm den Rücken freizuhalten und pflegte ihn, da er häufig herzleidend war. Sie wurde auch mehrfach in Paris von ihrer kranken Schwester gebraucht. Um Max nicht auch noch die Kosten von deren Pflege aufzubürden, bot sie selbstverständlich an, ihren kostbaren Nerzmantel zu verkaufen. Er lehnte ab und wünschte sie sich vor allem an seine Seite (Ginor & Remez 2012, S. 34). Obwohl sie als verwöhnte Frau erschien, ein „Epitom des 19. Jahrhunderts“, wie Arnold Zweig es ausdrückte, war sie zur Stelle, wenn es wirklich drauf ankam (Zweig 1947).
Eine letzte große Abendgesellschaft richtete Mirra in Jerusalem zu Max‘ 60. Geburtstag aus. Max war krank und konnte nicht daran teilnehmen. Nach seinem Tod musste sie das Haus aufgeben und zog zu ihrer alten Freundin Anna Smeliansky nach Tel Aviv. Sie war praktisch mittellos. Einrichtungsgegenstände und auch die Kleidung von Max verschenkte sie. Vieles ging an Arnold Zweig. Mirra sorgte dafür, dass der Erinnerungsband „Max Eitingon in Memoriam“ verfasst wurde.
Ginor & Remez schildern sehr eindrücklich, wie bitter es gewesen sein müsse, dass Max Eitingons Wohltätigkeit gern angenommen worden sei, aber es an Respekt und Dankbarkeit auch seiner Frau gegenüber gefehlt habe. Die Palästinensische Psychoanalytische Vereinigung habe den Gedenkband wie eine „beschwerliche Last“ behandelt. Er erschien erst drei Jahre nach Mirras Tod (2012, S. 35).
Arnold Zweig widmete Mirra einen Nachruf. Mirra, die sich bereits krank auf den Weg zu ihrer Schwester in Paris gemacht habe, sei erschüttert gewesen von der zerstörten Stadt, der Zerstörung ihrer Familie und den verstörten Menschen. Da sie ihrer Schwester nicht helfen konnte, wollte sie sich auf den Heimweg machen. Sie starb noch in Paris (The Palestine Post. 10.10.1947). Sie wurde neben ihrem Mann in Jerusalem auf dem Ölberg bestattet.
Juli Khariton, 1924 Photo: Quelle: deacademic
Nach der Russischen Revolution von 1917 wurde Boris Khariton Direktor des Hauses der Schriftsteller und war damit ideologisch-politisch besonders exponiert. Auch den Bolschewiken gegenüber war Khariton kritisch. 1922 entledigte sich Lenin einer großen Zahl von Regimekritikern. Auch Boris Khariton wurde zusammen mit 43 Ärzten, 69 Professoren, Lehrern und Wissenschaftlern, 10 Ingenieuren, 7 Rechtsanwälten und Richtern, 29 Schriftstellern, Journalisten und weiteren Intellektuellen auf dem „Philosophenschiff“ ins Baltikum gebracht. Khariton verbrachte dann ein Jahr in Berlin, bevor er sich in Riga niederließ und dort eine Emigrantenzeitung gründete. Juli, der Sohn von Mirra und Boris Khariton, war in St. Petersburg zurückgeblieben. Nach der Besetzung Lettlands durch die UdSSR 1940 wurde Khariton erneut inhaftiert und zu 7 Jahren Gefängnis verurteilt. Er starb zwei Jahre später im Lager (Hariton).
Als Mirra ihren kleinen Sohn Juli verließ - vermutlich war er ungefähr drei Jahre alt -, blieb er in der Obhut eines estnischen Kindermädchens, das ihn Deutsch lehrte. In seinen ersten Schuljahren wurde er von Privatlehrern unterrichtet (Yulii). Juli las leidenschaftlich gern – vor allem in dem zehnbändigen Kinderlexikon und in den Büchern von Jakow Issidorowitsch Perelman mit ihren unterhaltsamen Aufgaben aus der Mathematik und Physik (Hariton).
Juli war hochintelligent. Da es am Petersburger Gymnasium aber eine Judenquote gab, musste er zunächst zur Handelsschule gehen. In der revolutionären Umbruchszeit gelang ihm doch noch der Wechsel auf ein reguläres Gymnasium und er konnte 1919, nach nur drei Schuljahren, die Schule abschließen.
Zwischendurch arbeitete er im Haus der Schriftsteller in der Bibliothek, studierte neben der Schule Mechanik und wurde bereits mit 16 Jahren Student der Elektromechanischen Fakultät des Petrograder Polytechnischen Instituts. Zunächst interessierte ihn Elektrotechnik, dann wechselte er zur Physik und Mathematik an das Institut von Nikolai Semenov, der 1956 den Nobelpreis für Chemie erhielt. Khariton schloss das Studium 1925 ab. Aus dieser Zeit stammte wohl auch seine Freundschaft mit Igor Vasilievich Kurchatov, der in seinem späteren Leben eine zentrale Rolle einnehmen sollte.
Unterstützt von hochrangigen Physikern wie A. Joffe, P. L. Kapitsy und N. N. Semenova (Hariton) wurde Juli Khariton 1926 nach Cambridge, England, geschickt, um dort in den Laboratorien des Kernforschers Ernest Rutherfort zu arbeiten und dort zu promovieren (Borisovichon). Auch Robert Oppenheimer, der in den USA die Atombombe entwickeln sollte, gehörte in dieser Zeit zu Rutherfords Studenten. Sowohl auf der Hin- als auch zwei Jahre später auf der Rückfahrt durfte Juli seine Mutter Mirra und seinen Stiefvater Max Eitingon in Berlin besuchen. Seine Besuche wurden weitgehend geheim gehalten. Von der Korrespondenz von Mutter und Sohn scheinen nur Fragmente erhalten zu sein (Ginor & Remez 2012, S. 30 f). Seine russischen Biographen erwähnen den Besuch bei seiner Mutter gar nicht oder nur als „Geschäftsreise“. In seiner Autobiographie schreibt Juli Khariton, dass er sich darüber wunderte, dass Hitler in Deutschland nicht ernst genommen wurde.
Juli Khariton heiratete, vermutlich 1929, Maria Nikolaevna, eine Balletttänzerin. Zu diesem Anlass schickte ihm Mirra einen Anzug (Ginor & Remez 2012, S. 31). Die Ehe soll sehr glücklich gewesen sein. Sie hatten eine Tochter, Tate, die mit Yuri Semenov verheiratet war, und mehrere Enkelkinder.
Seit 1939 arbeitete Khariton im Bereich der Nuklearphysik und während des Krieges, zwischen 1942 und 1944, an der Wirksamkeit von Munition und zu Eigenschaften von Sprengstoff.
Inzwischen entdeckten die deutschen Physiker Otto Hahn und Fritz Straßmann die Kernspaltung (Hahn, Otto). Amerikaner und Engländer fürchteten nun, dass Hitler eine Bombe bauen und damit den Krieg für sich entscheiden würde. Fieberhaft arbeiteten sie 1943 in dem „Manhattanprojekt“ an einer Bombe, um Hitler zuvorzukommen – ohne ihre Verbündeten, die Russen, einzubeziehen. Durch den kommunistischen Spion und Physiker Klaus Fuchs, der aus Nazideutschland geflüchtet war und im amerikanischen Kernforschungszentrum Los Alamos arbeitete, gelangten die Unterlagen zum Bau der Atombombe bereits 1945 in das Archiv des KGB in der Lubjanka – ohne dass die Russen etwas damit anfangen konnten. Nach den ersten Atomwaffenversuchen der Amerikaner reagierte Stalin wütend auf die drohende Machtverschiebung und beauftragte den berüchtigten Chef der Geheimpolizei Lavrenty Beria, den Bau einer russischen Atombombe – und das in 5 Jahren - zu organisieren. Der Atomphysiker Kurchatov wurde mit dieser Mission betraut. Es war streng geheim, aus welchen Quellen die Informationen stammten, mit denen er sein Team versorgte. Kurchatov holte seinen Freund Khariton an seine Seite. Beria hütete Khariton wie seinen Augapfel. Er hatte ihm sogar das Fliegen verboten aus Angst, dass er abstürzen könnte. Khariton reiste nun in einem eigenen Salonwagen mit Schlafzimmer, einem komfortablen Büro und der Haushälterin Claudia Jagarowa quer durch die Sowjetunion, um ein geeignetes Areal für den Bau einer Atombombe zu finden. Obwohl Khariton von dieser außerordentlichen Bedeutung für das sowjetische Atomprogramm war, konnte er seinem Vater, der 1943 in einem Gulag starb, nicht helfen.
Khariton bestimmte die Stadt Sarov, 640 km von Moskau entfernt, zum kernphysikalischen Zentrum. Der Ort war so streng geheim, dass er von allen Landkarten gelöscht wurde und nun KB-11 (Arzamas-16) hieß. Die notwendigen Anlagen wurden von Gulag-Häftlingen gebaut. Eine dicke Stacheldrahtmauer schloss seine Bewohner ein. Umgeben von Wachposten, durfte niemand ohne ausdrückliche Genehmigung die Stadt verlassen oder sie besuchen. Mit in Kharitons Wohnung lebte ein Geheimdienstmitarbeiter, um ihn zu bewachen.
Unmittelbar nach Kriegsende reisten Beria und Molotow mit einer Gruppe sowjetischer Physiker nach Berlin. Julius Khariton war unter ihnen (Hariton). Ende 1945 wurden auf Stalins Befehl 200 hochqualifizierte deutsche Nuklearwissenschaftler in die UDSSR gebracht.
Unter ihnen waren die Physiker Gustav Hertz und Peter Adolf Thiessen (deacademic).
Am 29. August 1949, dem Tag des ersten erfolgreichen Tests der sowjetischen Atombombe in Kasachstan, befand sich Khariton mit anderen Wissenschaftlern und Militärangehörigen in einem unterirdischen Bunker. Die Bombe wurde gezündet. Die Bunkertür flog auf, über der Steppe zuckte der Blitz der nuklearen Explosion. Khariton rannte zur Tür, um sie zu schließen, damit niemand durch die Schockwelle zu Schaden kommen sollte. Da wurde er von Beria gepackt, der ihn hochhob, ihn fest an sich drückte und mit den Worten küsste: "Du hast keine Ahnung, wie schlimm es gewesen wäre, wenn die Bombe nicht funktioniert hätte.“ Allen war klar, dass sie inhaftiert oder getötet worden wären, wenn der Versuch misslungen wäre. Khariton gelang es rechtzeitig, sich aus Berias Umarmung herauszuwinden. Im letzten Moment schloss er die Tür und die Schockwelle tobte mit brüllender Kraft über sie hinweg und zerstörte alles um sich herum (cr48, Vinoico). In einer anderen Version dieser Episode ist es Kurchatov, der Beria mit den Worten umarmte: „Wir haben es geschafft!“, und Beria schrie: „Lassen Sie mich los, Sie erwürgen mich ja!“ (Doran, 1994).
Dass die Bombe identisch mit der war, die die Amerikaner auf Nagasaki abgeworfen hatten, durfte unter Todesstrafe nicht erwähnt werden. Die Amerikaner hatten 20 bis 30 Milliarden Dollar für den Bau der Bombe ausgegeben - die Russen nur die Kosten für die Spionage.
Kurchatov war entsetzt über die Wirkung der Bombe und richtete einen bewegenden Appell an den Obersten Sowjet, alle Tests von Atom- und Wasserstoff-Bomben einzustellen.
Andrei Dmitrijewitsch Sacharow, der die Wasserstoffbombe entwickelt hatte, wurde zum prominentesten sowjetischen Dissidenten unter den Wissenschaftlern. Ihm wurde der Friedensnobelpreis verliehen. Sacharow hatte viele Jahre unter Khariton gearbeitet - aber Juli Khariton war linientreu und unterzeichnete einen Brief, in dem Sacharow verurteilt wurde.
Alle russischen Machthaber brauchten Juli Khariton: Stalin, Beria, Chruschtschow, Breschnew, Gorbatschow und Jelzin.
Er war hoch geehrt und wurde vielfach ausgezeichnet:
Dreimal als Held der Sozialistischen Arbeit (29.10.1949, 08.12.1951, 01.04.1954), sechsmal mit dem Lenin-Orden (29.01.1949, 09.11.1956, 07.03.1962, 1964, 1974, 1984), dem Orden der Oktoberrevolution (1971), dem Orden vom Roten Banner der Arbeit (1945), dem Orden des Roten Sterns (1944), mit dem Lenin-Preis (07.09.1956), dreimal mit dem Stalin-Preis (29.10.1949, 06.12.1951, 31.12.1953). Schließlich erhielt er die Goldmedaille nach I. Kurchatov (1974) und die große Goldmedaille nach MV Lomonosov (1982).
Zu seiner Beerdigung erschien nur seine Familie. Es fehlten die hohen Repräsentanten der Staatsmacht, die ihm ihre Positionen verdankten (Vinoico).
Ein Film von Jamie Doran bei PHÖNIX
Die rote Bombe. Das Ende der Unschuld-Rote Bombe Teil 1 bis Teil 3
https://www.youtube.com/watch?v=VVigAB0PnYw
(bricht abrupt ab)
https://www.youtube.com/watch?v=Pl0pnwBotE4
(abruptes Ende)
Die rote Bombe. Geheime Pläne
https://www.youtube.com/watch?v=yygNEsZA6QE
Juli Khariton: 30:31 – 31:15
Die rote Bombe. Im Namen des Friedens
Doku German Phoenix - Die rote Bombe Teil 3
https://www.youtube.com/watch?v=Hawtn8E-yS4
Juli Khariton: 44:27 – 45:28
Literatur zu Mirra
Bonhams (2013): Auktionskatalog. Russian Literature & Works on Paper. Wednesday June 26, 2013 at 10am. New York.
4110 EITINGON, MAX. 1881-1943.Guest Book belonging to Dr Eitingon. 4to. Berlin and Jerusalem. https://images2.bonhams.com/original?src=Images/live/2013-05/29/S-21421-0-1.pdf
deacademic. https://deacademic.com/dic.nsf/dewiki/720223
Ginor, I. und Remez, G. (2012): Cherchez la femme und der sowjetische Geheimdienst.
13. September 2012 – 26 Elul 5772. haGalil.com Jüdisches Leben online http://www.hagalil.com/2012/09/sowjetischer-geheimdienst/
Ginor, I. und Remez, G. (2015): "Meine Mirra, meine Welt". Mirra Birens-Eitingon als Schlüssel zur Persönlichkeit ihres Mannes Max Eitingon. In: Luzifer-Amor Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse Heft 55 (28. Jg. 2015) (S. 7–38).
Ginor,I und Remez, G.(2020): Sara Neidisch: Neue Informationen über eine schattenhafte Gestalt – und neue Fragen. In Luzifer-Amor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse. 33. Jg. H. 66. S. 152 – 155. Ausführlichere englische Fassung unter: https://www.luzifer-amor.de/fileadmin/bilder/Downloads/LuziferAmor66_Ginor-Remez.pdf
Hahn, Otto. https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_Hahn#Die_Entdeckung_der_Kernspaltung_(1938).
Hariton, J. https://cr48.ru/de/hariton-physicist-wikipedia-biography-of-julia-hariton/
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Verein. Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865. Die Geschichte Berlins. https://www.diegeschichteberlins.de/geschichteberlins/berlin-abc/stichworteot/805-russisches-kulturleben-im-berlin-der-1920er-jahre.html
Yulii: https://en.wikipedia.org/wiki/Yulii_Khariton
Zweig, A.(1947): The Palestine Post vom 10.10.1947
Für die Überlassung der Bilder vom IPV-Kongress 1934 (Tim N. Gidal), Luzern danke ich dem Jüdischen Museum Wien
Stadtplan, Berlin- Dahlem, Altensteinstraße 26
Stadtplan, Berlin-Tiergarten, Rauchstraße 4
Die Gedenktafel ist nur durch einen schmalen Buschkorridor, neben der Eingangstür, zu finden.
Gedenktafeln:
Adressen: Rauchstr. 4, 10787 Berlin (1928-1933)
und Altensteinstr. 26, 14195 Berlin (1921-1928)
Sponsoren der Tafeln: Europäische Psychoanalytiker
Datum der Enthüllung: 19.09.2004
Anlass: Mitteleuropäische Tagung für Psychoanalyse in Potsdam
Mitwirkende: Ludger Hermanns, Dr. Michael Schröter
Anfang Mai 1921 – Nov. 1928 Rauchstr. 4
Nov. 1928- 1933 Altensteinstr. 26
Tafelenthüllung, Altensteinstr. mit Michael Schröter, Ludger M.Hermanns und Regine Lockot