(Bearbeitungsstand vom 14. Dezember 2023)
Hanns Sachs wurde am 10. Januar 1881 in Wien geboren. Er starb am 10. Januar 1947 in Boston Massachusetts. Unzufrieden mit seinem Beruf als Strafverteidiger wurde er Psychoanalytiker, war ein Freund der Literatur und des Films und galt als Bonvivant. Sachs gehörte dem engsten Kreis um Sigmund Freud an, war Mitbegründer der Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften, Imago (1912). 1939 gründete er die American Imago. Von Karl Abraham wurde er dazu eingeladen als, „neutraler“ Lehranalytiker am neu entstehenden Berliner Psychoanalytischen Institut zu wirken.
Bereits 1932 erkannte er die Gefahr des Nationalsozialismus. Er verließ Berlin und ging nach Boston (USA) und wurde Lehranalytiker der Boston Psychoanalytic Society.
Hanns Sachs‘ Kindheit und Familie
Literatur als Weg zu Sigmund Freud
Beginn einer psychoanalytischen Organisation
Ein schwerer Start als Berufsanalytiker
Als Laienanalytiker und erster Lehranalytiker in Berlin
Hanns Sachs, der Analytiker der Analytiker
Das Berliner Filmprojekt: Geheimnisse einer Seele
Annie Winifred Ellerman, „Bryher“, Sachs „Maharani“
Bryher soll Analytikerin werden
Hanns Sachs als Analytiker in Boston
Sachs' Berliner Adressen
1921 Meinekestraße 22/III
1923 - 1931 Mommsenstraße 7 H
IV
Ausschnitt mit Hanns Sachs: Psychoanalytischer Kongress, 1929 Oxford.
Mit freundlicher Genehmigung des Sigmund Freud Archives und der Library of Congress.
Zur Biographie
Hanns Sachs wurde in Wien als jüngster Sohn einer wohlhabenden, kultivierten, jüdischen Familie geboren. Obwohl sich unter seinen Vorfahren eine Reihe von Rabbinern befand, war die Familie nicht religiös. Sein Vater, Dr. jur. H. Samuel Sachs (?-17.02.1909), war Rechtsanwalt. Seine Mutter, Hermine, geb. Heller lebte von 1848 bis zum 18.01.1934. Hanns Sachs hatte drei ältere Geschwister, Olga, verh. Barsis (geb.1872-?) und Elsa, verh. Leipen (geb.1876-?) und einen Bruder namens Otto. Otto starb, als Hanns 16 Jahre alt war (1897). Er hatte Theaterstücke geschrieben und seine Schwester Elsa schrieb Erzählungen. Die Familie stammte aus dem Sudetenland.
Hanns war ein brillanter Schüler. Nach Abschluss des Gymnasiums studierte er in Wien
Jura und promovierte 1904 zum Doktor der Rechtswissenschaften. Obwohl er bis 1918
Hof- und Gerichtsadvokat war, interessierte ihn Jura eigentlich überhaupt nicht. Er liebte die Literatur. Vor allem bewunderte er Dostojewski. Ihn faszinierte dessen tiefer Zugang zu Vorgängen in der menschlichen Seele. Mit Hilfe der Wundtschen Psychologie versuchte er Dostojewskis Romane besser zu verstehen – aber Wundt enttäuschte ihn.
Besonders anziehend war für Hanns Sachs „der düstre Zauber“ von Epilepsie und Psychopathologie in Dostojewskis Figuren. Bei seiner Suche fiel ihm zufällig die Traumdeutung von Sigmund Freud in die Hände. In seiner autobiographisch eingefärbten Würdigung Freud, Meister und Freund (1944/1982) nennt er diesen Moment die „Schicksalsstunde“, die sein Leben grundsätzlich verändern sollte – so wie die Begegnung mit einer „femme fatale“ ... „nur mit wesentlich günstigeren Folgen“, wie er schrieb (Sachs, 1982, S.1). Die Vorlesungen dieses Meisters fanden immer samstagabends statt. Hanns Sachs verehrte Freud bereits so sehr, dass er sich nicht allein in die Vorlesungen traute und seinen Vetter Toni Lieben bat, ihn zu begleiten. Aber seine Schüchternheit verschwand schnell als Freud seine Zuhörer dazu einlud, im Hörsaal nach unten zu kommen und sich um einen Tisch herum zu setzen. In dieser zwanglosen und zugleich intimen Atmosphäre der sech bis sieben Zuhörenden, illustrierte Freud mit kleinen Bildern und Anekdoten seine Entdeckungen und diskutierte sie mit seinen Studenten, die aus den verschiedensten Fachrichtungen kamen (E. Sachs, 1953). Sachs brachte auch seine Verlobte Emmy Pisko (1886-1989), „eine attraktive und hochkultivierte Frau“ (Moellenhoff, 1995, S. 180), die Frühgeschichte und Sprachwissenschaften studierte und später Lektorin für Mathematik an der Wiener Universität wurde, mit. Sie war die einzige aus diesem Hörerkreis, die später nicht Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung wurde (Jones, 1962, S.28).
Im Frühjahr 1909 besuchte Hanns Sachs Freud persönlich, um ihm seine Übersetzung von Kiplings Barrack-Room Ballads zu überreichen und fand in ihm einen literarisch außerordentlich gebildeten Gesprächspartner. Es folgten weitere Besuche. Einige Male begleitete ihn auch Emmy Pisko, die er inzwischen geheiratet hatte. Daraus ergab sich auch eine nähere Beziehung zur Familie Freud und Emmy Sachs gab Anna Freud Lateinstunden. Emmy und Hanns Sachs waren nur kurze Zeit verheiratet. Sie blieben aber freundschaftlich miteinander verbunden, und 1938 unterstützte Hanns Sachs sie dabei, in die USA zu fliehen. Sie starb 1989 mit 103 Jahren in Berkeley, California.
Sachs wurde 1909 Mitglied der Mittwochs-Gesellschaft.
Etwa 1911/12 kamen die Vorlesungen Freuds in Mode und verloren ihren anfänglichen Zauber (E. Pisko, 1953).
Aus dem Kreis der Hörer und der Teilnehmer der Mittwochs-Gesellschaft konstituierte sich die Wiener Psychoanalytische Vereinigung (WPV). Alfred Adler war ihr erster Präsident. Seit 1909 stand Sachs mit der Vereinigung in Kontakt und wurde im Oktober 1910 als Mitglied aufgenommen. In seinen ersten Publikationen (1911) stehen der Traum und die Anwendbarkeit der Psychoanalyse auf Werke der Dichtkunst im Mittelpunkt. Nach der Auseinandersetzung mit Alfred Adler und seinen Anhängern und deren Austritt aus der WPV wurde Sachs in den Vorstand der Vereinigung berufen und war ihr Bibliothekar.
Besonders innig war seine Freundschaft mit Otto Rank, der als „rechte Hand“ Freuds galt. Sie tauschten sich intensiv über ihre Projekte und Pläne aus und arbeiteten sehr fruchtbar bei der Herausgabe der Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften, Imago (1912) zusammen. Gemeinsam verfassten sie die programmatische Arbeit, Die Bedeutung der Psychoanalyse für die Geisteswissenschaften (1913).
Nach den großen Konflikten in der Anfangszeit der psychoanalytischen Bewegung regten Ernst Jones, Sándor Ferenczi und Otto Rank im Juli 1912 die Gründung einer kleinen Gruppe an, die loyal zu Freud und zur Psychoanalyse einen informellen und geheim gehaltenen 'Kern der Bewegung' bilden sollte. Auch Hanns Sachs wurde einbezogen, und etwas später kam Karl Abraham hinzu. 1919 wurde auch Max Eitingon aufgenommen. Die Gruppe, das "Komitee", traf sich am 25. März 1913 zum ersten Mal bei Sigmund Freud in Wien (Hermanns, 2009, S. 309 FN 4). Zum Zeichen der Verbundenheit trug jedes Mitglied als Geschenk von Freud einen Gemmenring. Ernst Jones charakterisiert Sachs aus dieser Zeit als „amüsanten Gesprächspartner, der witzigste von uns allen, und er hatte einen endlosen Vorrat an besten jüdischen Witzen“ (Jones, 1962, S.196). Die politische Seite des Komitees langweilte Sachs und 1927, als das Komitee zum offiziellen IPV-Vorstand wurde (auf dem Innsbrucker Kongress), Abraham gestorben war und Rank den Kreis verlassen hatte, ließ er die Mitgliedschaft still fallen. Obwohl Sachs Freud sehr verehrte, fehlte zwischen ihnen „etwas, das ganz von selbst zur Intimität zwischen gleichartigen und gleichgestimmten Naturen führt“ (Sachs, 1982, S. 12). Freud gefiel Sachs‘ zeitweilige Apathie nicht - so, dass sie sich einander entfremdeten (Hermanns, 2009, S. 696).
Aus dem Kreis um Freud war Ernest Jones, nach Rank, wohl Sachs am nächsten. Jones zweite Frau, Katharina („Kitty“) geb. Jokl, war die Schwester von Sachs‘ Freundin, der Schauspieler Grete Ilm (Jones,1962, II S.232).
Vor allem in den letzten beiden Kriegsjahren, die er meistens in Wien verbrachte, litt er sehr unter Kälte und Hunger. Er erkrankte an einer rasch fortschreitenden Tuberkulose. Die vielen Abende, die er allein mit Freud, in dessen ungeheiztem Arbeitszimmer in Überrock und Handschuhen, Frostbeulen an den Händen und mit einem Hut auf dem Kopf verbrachte, konnte er nicht wirklich nutzen. Er fühlte sich matt und Freuds „ungeschwächter Energie“ nicht mehr gewachsen (Sachs, 1982, S.142). Am Morgen des 28. September 1918, vor Beginn der Vorträge auf dem Budapester Psychoanalytischen Kongress, erlitt Hanns Sachs eine schwere Lungenblutung. Zwei Wochen später, am Tag des Waffenstillstands, dem 11. November 1918, begab er sich in die Schweiz, zunächst nach Davos zu einem Heilaufenthalt, der finanziell aus dem Fonds von Anton von Freund unterstützt wurde. Im April 1919 konnte Karl Abraham Sachs‘ „gute Reconvaleszenz“ an Freud melden (Hermanns, 2009, S.615). Es war vorgesehen, dass Hanns Sachs weiter in der Schweiz bleiben sollte, um den Aufbau einer Schweizer psychoanalytischen Vereinigung zu unterstützen. So hielt er in Zürich gut besuchte Kurse zur Psychoanalyse, schrieb Zeitungsartikel und begann mit ersten psychoanalytischen Behandlungen. Seine Schweizer Kollegen schätzen es aber nicht, wie sehr er mit seinem 'Wissen auftrumpfte', und Sachs entschied sich, in das großstädtische Berlin überzusiedeln (nach Schröter, 2017).
Als Laienanalytiker und erster Lehranalytiker in Berlin
Karl Abraham, Max Eitingon und Ernst Simmel waren dabei, ein psychoanalytisches Ausbildungsinstitut und eine Poliklinik aufzubauen. Abraham hatte es zunehmend komplizierter gefunden, dass der Kreis seiner Mitarbeiter und Kollegen bei ihm in Analyse gewesen war und die dabei entstandenen Übertragungsbeziehungen eine sachliche Zusammenarbeit oft erschwerten. Hanns Sachs kam im Oktober 1920 mit dem Auftrag nach Berlin, didaktische – also Lehr-Analysen – zunächst für Poliklinik Mitarbeiter, durchzuführen. Der Kreis seiner Analysanden weitete sich schnell aus. Als „Laienanalytiker“ erschien er für diese Aufgabe besonders geeignet, weil bei ihm „keine professionelle Eifersucht“ zu fürchten sei (Schröter, 1996, S.1150). Mithilfe seiner literarischen Bildung könne er außerdem ein größeres Publikum, über die therapeutische Anwendung der Psychoanalyse hinaus, gewinnen. In dieser Übergangszeit zwischen informell erworbener Qualifikation und verbindlichen Ausbildungsrichtlinien setzte sich Sachs für ein Diplom für Psychoanalytiker ein (IZP / VI / 1920 / 388). Erst auf dem Homburger psychoanalytischen Kongress von 1925 wurden internationale Ausbildungsrichtlinien beschlossen. Nach dem Berliner Modell sollte kein Diplom, sondern die Vereinsmitgliedschaft zum Beleg für eine erfolgreich abgeschlossene Ausbildung dienen.
Obwohl die Statuten der Vereinigung nur Ärzte als Vollmitglieder zuließen, wurden sie geändert, um Sachs offiziell zum 1. Februar 1921 von der WPV in die Berliner Psychoanalytische Vereinigung (BPV) übernehmen zu können.
Die Schwierigkeiten in der Schweiz, die wohl zu Sachs‘ Umzug nach Berlin geführt hatten, zeigten sich auch in Berlin. Davon berichtet Anna Freud sehr plastisch: “Sachs schwillt hier an, spielt den jüdischen Obergott, der lobt und tadelt, und macht in offener Sitzung Witze, was er sich in Wien doch nicht getraut hat. Aber er fühlt sich sehr glücklich dabei, und das ist vielleicht die Hauptsache“(Anna Freud an S. Freud, 12. Nov. 1920 zit. nach Meyer Palmedo 131 AF). Und rund zwei Jahre später, am 19. Januar 1923 schreibt Lou Andreas Salomé an Anna Freud: „In der vorgestrigen Sitzung glänzte Hanns Sachs' Vortrag (über Perversion) infolge einer mündlichen Bemerkung, die er aus Wien mitgebracht (hatte). Alle blickten scheel und neidisch“ (Rothe/ Weber 2001, S. 136). In seiner Würdigung zu Hanns Sachs' 50. Geburtstag hob Max Eitingon diese Arbeit Zur Genese der Perversionen (1923) als die „wissenschaftlich hervorragendste von ihm“ hervor (Eitingon, 1931, S. 158).
Das psychoanalytische Parkett
Sachs liebte die großstädtische Bühne, wie Alix Strachey an ihren Mann James schrieb. Er sei ein „grandee“, ein Genießer und „Bon Vivant“. Manchmal tauche er allerdings mit dubiosen Frauen auf (Meisel, 1986, S. 111, S.140). Wenn man ihm gewachsen sei, sei er sehr unterhaltsam und weniger provinziell als die anderen. Sie sei allerdings von ihm eingeschüchtert und sah sich unter den „kleinen Lichtern“, „where I belong“. Zusammen mit Melanie Klein besuchte Alix Strachey besonders gern Tanzveranstaltungen. Hanns Sachs war ebenso tanzfreudig. Der ihn begleitende Sándor Radó tanzte nicht. Er redigierte und schrieb psychoanalytische Texte (Meisel, 1986, S. 111, S.300).
Paula Heimann fand Hanns Sachs den „hässlichsten Mann“, den sie je gesehen habe – aber er sei auch interessant und hatte eine „entzückende junge Freundin“ (Lockot, 1995, S.148), und Melanie Kleins Biographin Phyllis Grosskurth nennt ihn sogar einen „notorischen Schürzenjäger“ (Grosskurth, 1993, S.154). Anna Freud (an Jones, 11.10.1921) sah in seinem Verhalten in Berlin eine infantile Regression – so, als ob ein Jugendlicher zum ersten Mal eine Großstadt besucht. Wahrscheinlich sei es eine Reaktion auf die Jahre der krankheitsbedingten Abhängigkeit. Seine völlige Genesung, eine bedeutende Position und unerwartete finanzielle Möglichkeiten hätten ihn zu einem gewissen Höhenflug verführt (Meyer-Palmedo, 2004, S. 441).
Sachs' Vortragsforen waren nicht nur psychoanalytische Kongresse. Durch Titel, die auch ein breites Publikum aufhorchen ließen, wie Gemeinsame Tagträume, Ars Amandi Psychoanalytica oder Psychoanalytische Liebesregeln oder Elemente der Psychoanalyse trug er, wie auch durch seine öffentlichen Vorträge in Buchhandlungen, mit zu der Verbreitung der Psychoanalyse bei.
Trennung von Otto Rank
Auch wenn Rank in Wien war, galten Theodor Reik, Otto Rank und Hanns Sachs als das "Psychoanalytische Trio“. Verbunden waren alle drei dadurch, dass sie eine besondere Nähe zu Freud hatten und dass sie als Nicht-Ärzte praktizierten und Psychoanalyse auf Themen der Kultur und der Literatur anwandten. Auch wenn sich Freud immer wieder vehement für „Laienanalytiker“ einsetzte, haftet diesem Begriff eine gewisse Entwertung an. Aus der Sicht von Theodor Reik hatte ihre Verbundenheit und auch ihre Rivalität biographische Gründe. Rank und Sachs waren früher als er bei Freud gewesen. Für ihn waren sie wie seine beiden älteren Brüder Otto und Hugo, die er übertreffen wollte (Reik, 1965).
Hanns Sachs war von Otto Rank sehr enttäuscht. Hatten sie sich bisher über ihre jeweiligen Projekte intensiv ausgetauscht, kam Ranks Manuskript, Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse, das er Sigmund Freud an dessen 67. Geburtstag (am 6. Mai 1923) überreichte, völlig überraschend. Freud fand Ranks Gedanken anfänglich sehr interessant, obwohl er darin wesentliche Grundannahmen seiner Lehre in Frage stellte. Freud legte Rank nahe, sein Manuskript zu überdenken. Rank folgte Freuds Empfehlung nicht.
Der folgende Bruch mit Rank, seinem „Lieblingssohn“, schmerzte Freud, der sich gerade (April 1923), einer ersten Krebsoperation hatte unterziehen müssen. Alix Strachey gegenüber äußerte sich Sachs sehr bewegt, wie enttäuscht er von Rank war. Der habe Freud, dem er alles verdanke, im Stich gelassen, als er auf dem Totenbett lag, um Dollars in Amerika zu verdienen. Es sei der Mord am Urvater, den der „jüngste Sohn“ begangen habe, um sich zu emanzipieren (Meisel, 1986, S.112, 114). Im Komitee nahm Anna Freud Ranks Platz ein.
Für Hanns Sachs war Rank „gestorben“ (möglicherweise wie sein älterer Bruder Otto).
Hanns Sachs, der Analytiker der Analytiker
Hanns Sachs hatte das psychoanalytische Werkzeug aus der Literatur gewonnen und mithilfe der Diskussionen in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung angeeignet. Er hatte keine eigene Lehranalyse und es fehlte ihm eine psychiatrische, neurologische oder psychotherapeutische Qualifikation. Seine Praxiserfahrung beschränkte sich auf ca. ein Dutzend Analysen während seines 15-monatigen Aufenthalts in der Schweiz (nach Schröter, 2017). Sachs‘ Analysen waren oft nicht länger als sechs Monate – bei einer Frequenz von sechs Sitzungen pro Woche.
In Berlin praktizierte er in seiner sehr kleinen Wohnung, in der das Esszimmer als Wartezimmer diente (Rubins, 1980, S.78). Seine Couch war besonders breit und inspirierte Freud zu der Bemerkung, dass man darauf Gruppenanalyse machen könne (Reik, 1965). Eine Bemerkung, die sich wohl nicht nur auf das Ausmaß der Couch bezog (s.u.).
Zu Sachs‘ Berliner Ausbildungsanalysanden gehören: Franz Alexander, Alice und Michael Bálint, Siegfried Bernfeld, Suzanne Bernfeld-Cassirer, Mary Chadwick, Frances Deri, Erich Fromm, Frieda Fromm-Reichmann, Karen Horney, Hans Lampl, Barbara Low, Rudolph Loewenstein, Heinrich Meng, Josine und Carl Müller-Braunschweig, Sascha Nacht, Sylvia Payne, Wilhelm und Annie Reich, Theodor Reik, Nina Searl, Ella Sharpe, Walter Schmideberg, und Ernst Simmel (Sachs, 1982, S. 177 und eigene Ergänzungen).
Obwohl viele von ihnen auch bei anderen Analytikern Analyseerfahrungen gemacht hatten, galt Sachs doch als prägend für eine ganze Analytikergeneration. Ab Januar 1923 wurden ältere Vereinsmitglieder zu Lehranalytikern hinzugezogen, da die Nachfrage so groß war.
Theodor Reik hielt Sachs für einen ausgezeichneten Analytiker, der die ganze Stunde schwieg und nur in den letzten 10 Minuten sprach (Reik, 1965). Vielleicht hat er sich Freuds Haltung in der Mittwochs-Gesellschaft zu eigen gemacht. Hier äußerte sich Freud ebenfalls nur zum Schluss.
Von einigen seiner Analysanden ist bekannt, dass sie mit der Analyse bei Sachs unzufrieden waren.
Michael Bálint, der zwischen 1920 und 1924 für zwei Jahre bei Hanns Sachs in Analyse war, empfand ihn zwar als angenehmen und außerordentlich gebildeten Mann, mit ausgezeichnetem Geschmack in Bezug auf alles: Literatur, Frauen, Wein und Zigarren. Aber er sei „sehr neurotisch“ gewesen. Als Analytiker fand er Sachs „zu theoretisch“, indem er über Träume lediglich diskutiere (1965, Bálint).
Karen Horney, die nach einer langen Analyse bei Karl Abraham, Anfang 1921, für sechs Monate zu Sachs in Behandlung ging, fand sein Vorgehen zu schematisch. Er praktiziere die streng „klassische Technik“, in der der Analytiker als „objektiver Spiegel“ fungiere und selten spreche. Er vernachlässige die Einzigartigkeit der Person (Rubins, 1980, S.78 u. S.124).
Hanns Sachs respektierte in besonderer Weise die Vertraulichkeit der Mitteilungen in den Analysen. Deshalb publizierte er auch keine Fälle und beschränkte sich auf die Analyse historischer Figuren, wie seine Studie Bubi, die Lebensgeschichte des Caligula (1930).
Das Urteil von Sándor Radó über Sachs Qualität als Analytiker fällt vernichtend aus: er habe kein therapeutisches Konzept, kein medizinisches, sei nicht vertraut mit den elementarsten Klinik-Vorgängen, sei auch kein Wissenschaftler gewesen und hätte weder von Biologie noch von Medizin eine Ahnung gehabt (Roazen, 1995, 1973, S.87 f).
Das Berliner Filmprojekt: Geheimnisse einer Seele
(https://www.youtube.com/watch?v=ceDrlwET2GY)
Psychoanalyse wurde um 1925 herum außerordentlich populär und ihre weitere Verbreitung durch das neu aufkommende Medium, den Film, lag in der Luft. Freud war strikt gegen eine Zusammenarbeit mit Filmleuten, da er das Medium für ungeeignet für die Darstellung von Psychoanalyse hielt. Er schlug sogar ein Beraterhonorar von 100.000 $ aus und wies Goldwyn zurück, der ihn persönlich aufsuchen wollte (Ries, 1997 S.47). Abraham fürchtete, dass „wilde Analytiker“ sich die Chance, einen Film über Psychoanalyse zu machen, nicht entgehen lassen würden. Deshalb schlossen er und Hanns Sachs mit dem Filmproduzenten Hans Neumann (Ufa) einen Vertrag für einen Lehrfilm über die Psychoanalyse ab und handelten damit gegen Freuds ausdrücklichen Wunsch, den Jones und Eitingon engagiert unterstützten. Das Vertrauensverhältnis zwischen Freud und Abraham war nun beschädigt. Eine inhaltliche Diskussion zum Thema Psychoanalyse und Film - war in dieser Atmosphäre nicht möglich (Ries, 1997, S. 55).
Die Situation wurde dadurch angeheizt, dass in einer voreilig herausgegebenen Erklärung der Film als von Freud autorisiert angekündigt wurde: „Freud beklagte sich über die Ufa bei Sachs direkt, und indirekt über ihn bei Eitingon und Ferenczi, während Abraham die Ufa gegen Freud verteidigte, Sachs durchaus loyal zur Seite stand und dann mit ihm versuchte, die Ufa dermaßen für die ganze Misere haftbar zu machen, sodass er einige Konzessionen gewonnen zu haben glaubte“ (Ries, 1997, S. 66). Der Schaden war nicht mehr zu beheben.
Das Interesse am Kino lag ganz auf Sachs‘ Linie, der nicht nur Literatur liebte, sondern auch persönlich in Schauspielerkreisen verkehrte. Mit der Schauspielerin Grete Ilm war er in seiner Wiener Zeit liiert gewesen und mit dem Fotografen und Schauspieler Hans Casparius, den er mit G.W.Pabst bekannt machte, traf er sich täglich in Berlin. Von Casparius stammt auch das bekannte Foto von Freud und seinen beiden Chow-Chows auf dem Balkon (1933). Obwohl es sich bei Geheimnisse einer Seele um einen Stummfilm handelte, bestand der Regisseur, G. W. Pabst, darauf, dass die Schauspieler auch etwas von Psychoanalyse verstehen müssten, um überzeugend zu sein. Pawel Pawlow, der den Analytiker spielen sollte, kam aus Russland, konnte kein Deutsch und hatte noch nie etwas von Psychoanalyse gehört. Pabst ließ russische Übersetzungen von Freuds Bücher aus Moskau kommen und trug Pawlow auf, sie zu lesen. Nach einem Tag kapitulierte er. Daraufhin wurde Sachs gebeten, eine Art Privatunterricht in Psychoanalyse zu erteilen. Über einen Zeitraum von zwei Wochen kam Sachs für drei bis vier Stunden täglich und erklärte Pabst die Psychoanalyse, der sie für Pawlow übersetzte. Sachs‘ Instruktionen des Regisseurs und der Schauspieler zeigten also, wie er arbeitete- wie er Träume analysierte, was für ihn Widerstandsanalyse bedeutete und wie er mit seinen Patienten umging. Als der Film später auf einem psychoanalytischen Kongress in den USA gezeigt wurde, bekam Pabst mehrere Anfragen, mit der Bitte, er möge doch den Namen dieses großartigen Arztes (Pawel Pawlow) nennen. Da es in den USA so wenige gute Psychoanalytiker gebe, wolle man ihn gern einladen (Ries, 1997, S.74).
Der Film wurde zu einem großen Erfolg als er im März 1926 uraufgeführt wurde. Sachs hatte nun nicht nur eine Generation von Analytikern mit seinem Modell einer Analytiker-Analysand-Beziehung sozialisiert, sondern auch in der Öffentlichkeit eine Vorstellung von einem psychoanalytischen Setting geprägt. Auch durch seine Publikationen versuchte Sachs mit sozialen, technischen und kulturellen Themen ein größeres Publikum für die Psychoanalyse zu gewinnen.
Annie Winifred Ellerman, „Bryher“, Sachs „Maharani“
Tatsächlich scheinen auch in Hanns Sachs‘ Seele einige Geheimnisse geschlummert zu haben.
1927 lernte er die englische Schriftstellerin und Begründerin der ersten Filmzeitschrift Close-up, Winifred Ellerman (Künstlername „Bryher“) über seine Verbindung zu Pabst kennen. Bryhers Vater war zum damaligen Zeitpunkt der reichste Mann Englands. Bryher war lesbisch und der „Zwillingsbruder“ der bisexuellen Schriftstellerin Hilda Doolittle (H. D.). Sie interessierte sich für Psychoanalyse, zögerte aber, sich auf sie einzulassen. Daraufhin erzählte ihr Hanns Sachs seinen Tagtraum: Eine völlig neurotische Maharani lud ihn in ihren fernen Palast in Indien ein. Nach der täglichen Analysestunde, auf dem Rücken eines Elefanten, folgte er einer seiner Lieblingsbeschäftigungen: dem Studium östlicher Philosophie. Einige Monate später nahm Bryher ihre Analyse bei Sachs auf. Mit zeitlichen und räumlichen Unterbrechungen fanden die Sitzungen in Berlin, der Schweiz und in Boston, zwischen 1928 und 1939 ohne eigentlichen Abschluss statt (Magee, 1997, S.7). Es war eine ungewöhnliche Analyse – denn Sachs pflegte gleichzeitig gesellschaftlichen Kontakt mit Bryher - sie trafen sich zum Dinner, Sachs schenkte ihr lange dicke Zigarren von der Sorte, die er selber während der Behandlung rauchte und empfahl das Rauchen sowohl Bryher als auch der 12-jährigen Tochter von H.D., die Bryher adoptiert hatte (Magee, 1997, S.13). Ob es sich möglicherweise um unausgesprochene Kommentare zu Bryhers Homosexualität handelte, bleibt offen. Außerdem erzählte er ihr Geschichten über die Familie seiner Frau und über Freud (Magee, 1997, S.15). Als sie im Frühjahr 1930 in London an ihrem Film Borderline (eine Studie zu Homosexualität und Rassismus) arbeitete und die Filmzeitschrift Close-Up edierte, vermisste sie Sachs und das ganze Berliner Leben schrecklich. Sachs schrieb ihr monatlich. Er ermutigte sie, an ihren Londoner Projekten zu arbeiten. Ihr Trennungsschmerz scheint kein Thema gewesen zu sein. Bryher tröstete sich in London mit einer Analyse bei Mary Chadwick, einer ehemaligen Analysandin von Sachs und Pionierin der Kinderanalyse in London. Mary Chadwick war auch die ehemalige Analytikerin ihrer Freundin H.D., die die Analyse nach etwa drei Monaten abbrach, da Chadwick ihrem „produktivem Geist nicht folgen konnte“ (Doolittle,1975, S.166) . Bryher bezahlte beide Analysen und heiratete den bisexuellen Regisseur von Borderline, Kenneth Macpherson, damit Doolittle mit ihm ein Verhältnis pflegen konnte. Sie bezahlte auch die Analyse von Macpherson, der ebenfalls zu Chadwick ging. In diesem komplizierten Beziehungsgeflecht war Sachs dann der Analytiker von H.D.. Doolittle fühlte sich bei Sachs allerdings nicht wohl. Die Vermischung von Filmdiskussionen, Konversation und beunruhigenden Interpretationen überwältigten sie. Im Dezember 1931 ging Sachs nach Wien und schlug H. D. vor, ihre Analyse in Wien bei ihm fortzusetzen. Es war ihr unbehaglich, mit ihm auf einem Flur im Hotel zu wohnen (Magee, 1997, S.16). Später, zwischen dem 1. März und dem 15. Juni 1933 und dann erneut von Ende Oktober bis zur 1. Dezember 1933, ging H.D. zu Freud in Analyse (insg. 105 Stunden, sechs Sitzungen wöchentlich) (Doolittle/Schröter, 1976, S.5).
Als Borderline in Berlin (ca April 1931) uraufgeführt wurde, war auch Bryhers Analytiker Hanns Sachs unter den Zuschauern.
Bryher soll Analytikerin werden
Sachs unterstützte Bryhers Wunsch, Analytikerin zu werden. Eine ganz besondere Hürde war zu überwinden. Wie Abraham und Eitingon, sah auch Sachs selbst in der Homosexualität eine Abwehr gegen eine tiefere Analyse. Sollten die Bewerber aber noch Qualitäten, die zu ihren Gunsten ausgelegt werden könnten, aufweisen, so sei gegen homosexuelle Kandidaten nichts einzuwenden. Bryhers Analyse mit Sachs stagnierte. Sachs bestand darauf, den Punkt in ihrer Biographie zu finden, an dem sie sich „entschieden“ habe, sich männlich zu definieren. (Bryher an H.D. 28.04.1931, Magee, 1997, S.13). Bryher wartete ungeduldig auf das Ende ihrer Analyse, um andere analysieren zu können.
In der Zwischenzeit gehörte sie zu den psychoanalytischen „Forschungsreisenden“ in die Innenwelt, die an den Veranstaltungen im Berliner Psychoanalytischen Institut teilnahmen. Sie besuchte, neben Sachs‘ Vorlesungen, nicht nur Vorlesungen über Anthropologie und die Theorie der Analyse, sondern auch über die gewöhnlichen Formen der Geisteskrankheiten und ihrer Symptome (Doolittle/Schröter, 1975, S.11).
Im Juni 1931 erörterte Sachs die Möglichkeit, ihr die Behandlung eines 15- jährigen hospitalisierten, aber künstlerisch sehr begabten Mädchens aus armen Verhältnissen anzuvertrauen. Bryher entschied sich, der Familie finanziell und nicht psychoanalytisch zu helfen.
Im Frühjahr 1932 beschloss Bryher ihre Analyse bei Sachs zu beenden – aber sie schob das Ende immer wieder hinaus und schickte einen Freund zur Analyse zu Sachs, die sie ebenfalls bezahlte und ermutigte H.D., zu Sachs zurückzugehen.
Bevor Sachs, Ende August 1932, Berlin verließ, wollte er Bryher unbedingt zu einer psychoanalytischen Ausbildung verhelfen. Eine Aufnahmemöglichkeit sah er bei der Schweizer Gesellschaft unter der Voraussetzung, dass sie ein dreimonatiges Praktikum in einer psychiatrischen Klinik machen sollte.
Bryher hat schließlich keine analytische Ausbildung gemacht. An Walter Schmideberg, Ehemann von Melanie Kleins Tochter Melitta, auch ehemaliger Analysand von Sachs und Analytiker von H.D., der als homosexuell galt und mit dem Bryher zeitweilig in der Schweiz in einem Haus lebte, schrieb sie, dass die meisten Analytiker ein viktorianisches (spießiges) Familienbild hätten – von Ehemann, Frau, Kindern und Sonntagsspaziergängen. Den Ausbildungsregeln hätte sie sich nie unterwerfen können, da sie zu experimentierfreudig sei, und vielleicht hätte sie sogar eine eigene Schule gegründet.
In ihren Briefen an Hilda Doolittle nannte sie Sachs „Hop-toad“ (Hüpfkröte) und Schildkröte (turtle). (Magee, 1997, S.9, 11). Eine besonders schöne dunkelgrüne Jadekröte war „eine Art Totem“, die bei jeder feierlichen Gelegenheit im engen Kreis um Freud mit dabei sein musste (Sachs, 1982, S.93). Sachs signierte auch einige Briefe mit einer Schildkrötenzeichnung.
Am 1.8.1939 besucht Hanns Sachs Freud ein letztes Mal in London. Seine Verehrung für Freud brachte er in dem 1944 erschienenen Bändchen Freud. Master and Friend, das von seiner ehemaligen Frau Emmy Sachs ins Deutsche übersetzt wurde, zum Ausdruck (Freud. Meister und Freund, 1982).
Emigration nach Boston
Sachs sah die Veränderungen in Deutschland mit großer Sorge und es war für ihn klar, dass er das Land verlassen musste. Irmarita Putnam, eine Analysandin von Freud, bot ihm, auf Freuds Empfehlung hin an, als Lehranalytiker der Boston Psychoanalytic Society (BPS) zu wirken.
Bei einem ersten Sondierungsbesuch in Boston 1932 beauftragte Sachs den jungen Anwalt David R. Pokross, ihm ein voll eingerichtetes Haus zu kaufen. Für die Haushaltsführung sollte ein älteres Ehepaar sorgen.
Sachs war sehr unglücklich darüber, Berlin verlassen zu müssen. Er unternahm mit Bryher, die ihn im Juni 1932 in Berlin besuchte, lange Spaziergänge, auf denen er Bryher von seinen massiven Eheproblemen mit seiner Frau G. erzählte. Offenbar war er nach der Scheidung von Emmy Pisko ein weiteres Mal verheiratet gewesen. G. teile Sachs‘ Einschätzung der politischen Entwicklung nicht und wolle in Berlin bleiben. Er sprach auch von seiner Angst vor der Einsamkeit in Boston. Über die Zukunft der Analyse zeigte er sich sehr beunruhigt – es entwickele sich alles in eine medizinisch-moralische Richtung (Magee, 1997, S.18).
Die Rollen hatten sich vollkommen verändert. Bryher übernahm nun die Rolle der Vertrauten und Fürsorglichen. Das alles tat Bryhers Verehrung von Sachs keinen Abbruch.
Sachs verließ Berlin endgültig Anfang 1933. Am 16.7.1933 starb Bryhers Vater. Mit ihrem Erbe gründete sie einen Hanns Sachs Training Fund, um bedürftige Kandidaten und Analytiker, die fliehen mussten, damit zu unterstützen. Beispielsweise gab sie Paula Heimann ein Darlehn, damit sie ihren medizinischen Abschluss in London machen konnte. Neben Spenden an Sigmund Freud finanzierte sie auch die Gründung der American Imago. Nach Sachs‘ Tod ging der Trust an das Bostoner Institut, das damit eine Bibliothek zu Ehren von Hanns Sachs aufbaute (Magee, 1997, S.354).
Bryher rettete 105 Menschen vor den Nationalsozialisten – unter ihnen auch Walter Benjamin, den sie letztlich ja nicht retten konnte, und Familienangehörige von Hanns Sachs, unter ihnen seine beiden Schwestern. Hanns Sachs nahm seine Schwester Olga Barsis und seinen Neffen Max in sein Haus auf. Obwohl Bryher bei ihrem Besuch im November 1936 kaum einen Termin bei Sachs bekam, weil seine Praxis so gut lief und er sich inzwischen in Boston wohl fühlte, schrieb er ihr, als sie im November 1938 nach New York kam, wie sehr er die Gespräche mit ihr vermisse, und als sie wieder in Europa war, wünschte er im Sommer 1939 ein paar Wochen in ihrer Nähe verbringen zu können.
Dabei hatte sich Sachs‘ Haus in Boston inzwischen zu einem gesellschaftlichen und kulturellen Hotspot entwickelt: Er fühlte sich in der intellektuellen Atmosphäre der Flüchtlinge aus Europa, Bauhausarchitekten, Nuklearphysiker, Wirtschaftswissenschaftler und anderen, sehr wohl.
Vor allem war er voller Dankbarkeit und fühlte sich mit dem Land und mit Boston verbunden (Gifford, 1997; Loewenstein, 1947, S.152).
Im Dezember 1946 schrieb Sachs an Bryher, wie sehr er sich nach einer Trennung von sieben Jahren auf ihren Besuch im Januar freuen würde.
Hatte diese Analyse nun eher dem Analytiker geholfen? Bryher meinte, dass sie ohne Analyse den Zweiten Weltkrieg sehr viel schlechter ertragen hätte. Sachs hätte ihr geholfen, ihre Energie auf die Bekämpfung des tatsächlichen Feindes zu richten und nicht auf sich selbst. Sie meinte, dass Psychoanalyse weniger etwas für Neurotiker sei, als für Gesunde, die mit ihrer Hilfe die Welt fröhlicher und glücklicher machen könnten. An die 'Würde eines Analytikers' glaubte Bryher allerdings nicht. Es sei eine inhumane Arbeit, in der es einen schmalen Grat gebe zwischen verstehender Unparteilichkeit und kaltem Urteil (Magee, 1997, S. 28).
Hanns Sachs als Analytiker in Boston
Während Sachs gesellschaftlich in Boston angekommen war, erwies sich sein Start als Analytiker als schwierig. Franz Alexander, sein Vorgänger als erster Lehranalytiker, hatte Boston nach einem Jahr wieder verlassen. Die Boston Psychoanalytic Society (BPS) befand sich in einer schwierigen Phase der Verfassungsreform, deren Wortführer Ives Hendrick, ein Lehranalysand von Franz Alexander war. Hendrick war ein entschiedener Gegner der Laienanalyse, und die Reform schloss ein, dass der Ausbildungsausschuss Lehranalytiker ernannte. Das Procedere unterschied sich von dem Berliner, bei dem das individuelle Votum des Lehranalytikers ausschlaggebend war. Für Ausbildungskandidaten, die Sachs zur Mitgliedschaft empfahl, bedeutete das, dass sie zurückgewiesen wurden. Diese Missverständnisse und die Enttäuschungen an Sachs' klinischer Qualifikation führten dazu, dass sich Sachs aus der Gremienarbeit unter Protest zurückzog. Trotzdem blieb er ein loyales Mitglied des BPSI. Er blieb auch als brillanter Lehrer und Supervisor unverzichtbar und war Analytiker mehrerer prominenter Kollegen, die ihre ersten Analysen bei Otto Rank, Carl G. Jung oder Paul Schilder gemacht hatten. Ihm wurde schließlich die große Ehre zuteil, als der einzige Nichtmediziner an der Harvard Medical School unterrichten zu dürfen. Neben den vielen Publikationen zu Fragen der Technisierung der Welt, zu literarischen Themen und zur Psychoanalyse war ihm sein Buch über The Creative Unconscious (1942), das kreative Unbewusste, besonders wichtig. Hier fasste er alles, womit er sich zur Psychologie der Kunst und des Künstlers beschäftigt hatte, zusammen. Bis zu seinem Tod war Sachs, zusammen mit George Wilbur, Herausgeber von American Imago.
Auch für die amerikanische Nachkriegsgeneration war Sachs ein prägender Lehrer – obwohl er In seinen letzten Lebensjahren in Bezug auf die Heilungsmöglichkeiten der Psychoanalyse nachdenklich und skeptisch geworden war (Gifford, 1997, Loewenstein, 1947, S.151). Im Januar 1947, kurz bevor Bryher kommen wollte, starb Sachs an einem Angina-Pectoris-Anfall an seinem 66. Geburtstag.
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English Chronicle
1881 10th January: Hanns Sachs is born in Vienna as the youngest of four children (two girls and a boy) of a wealthy Jewish family. The family originally came from Sudetenland. His father is the lawyer Dr.jur. H. Samuel Sachs.
1899 Hanns Sachs finishes grammar school as a brilliant student. Study of law in Vienna.
1904 Doctorate in law, Dr.Jur.Hanns Sachs works as lawyer for the court and at the court of justice (until 1918). His interest in literature, psychology and psychiatry and in particular reading the Interpretation of Dreams lead him to Psycho-Analysis.
1905 –1907 Attends Sigmund Freud’s lectures at the university. His later wife, Emmy Pisko (University lecturer of mathematics in Vienna) was among the audience, too. Although the marriage does not last, he helps her to emigrate to the United States in 1938.
1910 Admission to the Vienna Psycho-Analytical Society (WPV) and start of his psychoanalytical practice.
1911 His paper Über die Anwendbarkeit der Psychoanalyse auf Werke der Dichtkunst (On the Application of Psycho-Analysis on the art of poetry) already points in his future development. He is member of the board and librarian of the WPV and remains a member until 1920. At the 3rd International Congress of Psycho-Analysis in Weimar he gives a paper on the relationship between Psycho-Analysis and Human Sciences
1912 Together with Otto Rank, he initiates the publication of the Journal Imago .Member of the Secret Committee (until 1927), the closest confidants of Freud.
1913 Publication of the paper: Die Bedeutung der Psychoanalyse für die Geisteswissenschaften (The significance of psychoanalysis for mental science, 1916), together with Otto Rank. This paper is seen as the first study on applied psychoanalysis. His most characteristic contributions to psychoanalysis are studies on Schiller, Schnitzler, Shakespeare, Spitteler and Strindberg.
1915 After a short military service Hanns Sachs is declared unfit for the army.
1918 At the congress in Budapest Sachs suffers a physical breakdown. He is diagnosed with a severe tuberculosis of the lungs. A stay at Davos leads to a temporary recovery. For a short time he practises in Zurich.
1920 Hanns Sachs follows the invitation of Karl Abraham and joins the recently founded Psychoanalytic Institute in Berlin. Abraham, who has to master important administrative tasks, hopes for the support of a “neutral” training analyst. The combination of analytic and administrative tasks had brought with it counterproductive potentials for conflicts. Sachs becomes a member of the Berlin Psycho-Analytical Society. Ars Amandi Psychoanalytica oder Psychoanalytische Liebesregeln (Ars Amandi Psychoanalytica)
1922 Die Elemente der Psychoanalyse (The elements of psychoanalysis) Hanns Sachs is regarded as “bon vivant”. The width of his couch inspired Freud to the remark that it could be used for group analysis.
1924 In the summer, series of lectures in London. In his essay Shared Daydreams he develops a psycho-analytic theory of literature.
1926 Hanns Sachs helps to develop the controversial film project “Secrets of a Soul”, which is realized by E.W. Pabst. Sachs writes the accompanying leaflet with the title: Psychoanalysis, riddle of the unconscious.
1927 The wealthy writer and homosexual friend of Hilda Doolittle, Annie Winifred Ellermann "Bryher", becomes Sachs' analyst, friend and patron of psychoanalysis.
1930 Bubi, das Leben des Caligula (Bubi, the life of Caligula). In the same year Does Capital Punishment Exist? is published in English. Here he combines his training in law and in psychoanalysis.
1932 Aware of the dangers of National Socialism, Sachs accepts the invitation of Irmarita Putman, emigrates to
Boston and becomes “official” training analyst of the Boston Psychoanalytic Society.
1936 Zur Menschenkenntnis (On the knowledge of human nature)
1938 He helps his two sisters emigrate to the US. He moves into his own home together with his sister Olga Barsis and his nephew Max. The house keeping is done by an elderly couple. Hanns Sachs is a generous host who is able to provide plenty of meaningful entertainment ????
1939 Exiled in America he founds the American Imago.He visits Freud in London for the last time.
1942 The Creative Unconscious
1944 His last work is dedicated to Freud: Freud, Master and Friend.Hanns Sachs is teaching at the Harvard Medical School and at the Simmons College. He withdraws from the Boston Psychoanalytic Society, as he disagrees with the reforms of the Institute (regarding the selection of candidates).
1947 10th January: Hanns Sachs dies in Boston from a heart attack.
1948 The people of a Strange Planet is published after his death.
The library of the Boston Psychoanalytic Institute is named after him.
Amongst his analysands in Berlin were: Franz Alexander, Alice and Michael Bálint, Siegfried Bernfeld, Suzanne Bernfeld-Cassirer, Mary Chadwick, Frances Deri, Erich Fromm, Frieda From-Reichmann, Karen Horney, Hans Lampl, Barbara Low, Rudolph Loewenstein, Josine und Carl Müller-Braunschweig, Sascha Nacht, Sylvia Payne, Wilhelm und Anni Reich, Theodor Reik, Nina Searl, Ella Sharpe, Walter Schmideberg and Ernst Simmel.
He often saw his analysands not more than for six months but six times a week.
(Translated by Helga Skogstad)
Für die Überlassung der Bilder vom IPV-Kongress 1934 Luzern (Tim N. Gidal) danke ich dem Jüdischen Museum Wien
Mit Dank an die 'Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Yale University' für das Bild, Sachs mit dem Affen
und den Brief an Bryher vom
3.12.1932
Zum Stadtplan
Gedenktafel:
Adresse: Mommsenstraße 7, 10629 Berlin
Sponsoren dieser Tafel: Freunde der Psychoanalyse (20.08.2006)
Datum der Enthüllung: 20.08.2006
Anlass: Teil des Rahmenprogramms der Freud-Ausstellung im Jüdischen Museum
Mitwirkender: Knuth Müller