(Bearbeitungsstand vom 19. Mai 2022)
Erich Fromm (* 23. März 1900 in Frankfurt am Main; gest.18. März 1980 in Muralto, Schweiz) war ein Psychoanalytiker, Sozialwissenschaftler und Humanist. Er lebte zwischen 1928 und 1930 in Berlin, um die Psychoanalyse am Berliner Psychoanalytischen Institut systematisch zu lernen. Fromm war Mitbegründer des Frankfurter Psychoanalytischen Instituts und Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung in Frankfurt. Er emigrierte 1934 in die USA und entfaltete dort seine kritischen und politischen Gedanken in Forschung und Lehre. Seine Beiträge zur Psychoanalyse, zur Religionspsychologie und zur Gesellschaftskritik haben ihn als einflussreichen Denker des 20. Jahrhunderts etabliert und machten ihn zu einer der Leitfiguren der Studentenbewegung. Erich Fromm war Mitbegründer der “International Federation of Psychoanalytic Societies”, des Dachverbands nichtorthodoxer psychoanalytischer Gesellschaften (1962).
Berliner Adresse Erich Fromms:
1928 - 1930 Bayerischer Platz 1
Interview mit Erich Fromm
Schultz. H.J. (1974): Interview: Im Namen des Lebens. Mit freundlicher Genehmigung von Rainer Funk.
Zur Biografie:
Erich Fromm, der junge jüdische Gelehrte
Erich Pinchas Fromm stammte aus einer streng gläubigen jüdischen Familie in Frankfurt, aus der zahlreiche Rabbiner hervorgegangen waren. Er war das einzige Kind des Weinkaufmanns Naphtali Fromm und seiner Frau Rosa, geb. Krause. Als Kind sah er sich in einer Reihe mit seinen Vorfahren bereits als Talmudgelehrten. Nach dem Abitur, 1918 am Wöhler-Realgymnasium, studierte er zunächst zwei Semester Jura an der Universität Frankfurt und wechselte zum Sommersemester 1919 zum Studium der Nationalökonomie/Soziologie, Psychologie und Philosophie (bei Max und Alfred Weber, Heinrich Rickert und Karl Jaspers) nach Heidelberg. Gleichzeitig studierte er täglich den Talmud bei Rabbi Rabinkow, der ihm die jüdische Gesellschaftslehre vermittelte. Sein Studium bettete er ganz in diesen religiösen Rahmen ein. Er schloss das Studium 1922 mit der Promotion bei Alfred Weber mit dem Titel: "Das jüdische Gesetz. Ein Beitrag zur Soziologie des Diaspora-Judentums" ab. Zusammen mit Rabbi Georg Salzberger war er 1919 Mitbegründer des Freien Jüdischen Lehrhauses. Mitarbeiter waren Gershom Scholem, Franz Rosenzweig und Ernst Simon. Fromm engagierte sich kurzfristig in dem Organisationsverband zionistischer Studentenverbindungen (K.J.V). In diesem Zusammenhang lernte er Walter Benjamin kennen.
In dem von Rainer Otte gestalteten Filmporträt (1999) erzählt Erich Fromm: „Ich wurde geboren als einziges Kind, was schon ganz schlimm ist, von zwei sehr neurotischen Eltern, überängstlichen Eltern, aus einer sehr orthodox jüdischen Familie, auf beiden Seiten mit Traditionen von Rabbinern, und die Welt in der ich lebte,… das war die Welt des traditionellen Judentums, das war im Grunde genommen eine mittelalterliche Welt. Das war noch nicht die bürgerliche Welt. Und (von) dieser mittelalterlichen Welt, von der bezog ich meine Tradition und meine Bewunderung und meine Vorbilder.“
Erich Fromms Emanzipationsversuche
Die Konflikte, die aus seiner Herkunft erwuchsen, weckten Fromms Interesse an Psychoanalyse. Er begab sich bei Frieda Reichmann (1889–1957) in Dresden in Behandlung. Frieda Reichmann stammte ebenfalls aus einer strenggläubigen jüdischen Familie. Gemeinsam entstand die Idee, ein privates psychoanalytisches Sanatorium in Heidelberg im Geiste des Judentums zu gründen. 1924 wurde das Haus eröffnet. Hier wurden jüdische Gebetszeiten, Speiserituale und jüdische Festtage streng eingehalten. Alle Bewohner, deren Freunde und sogar die Hausangestellten, mussten sich einer Psychoanalyse unterziehen.
Erich Fromm und sein Freund Leo Löwenthal gehörten zu den ersten Analysanden.
Auch die junge Ärztin Herta Seidemann, die aus Breslau kam und von ihrem Doktorvater Robert Wollenberg zur psychoanalytischen Ausbildung angeregt worden war, wollte hier die Psychoanalyse kennenlernen (2022, Herrn). Durch die Befreiung von Verdrängung von Sexualität sollte etwas Neues entstehen. Etwas augenzwinkernd wurde das Haus als „Torapeutikum“ bezeichnet. Es existierte bis 1928.
Zwischen Frieda Reichmann und Erich Fromm entstand eine völlig unkonventionelle Liebesbeziehung. Frieda Reichmann war 11 Jahre älter als Erich Fromm und missachtete das Gebot der Abstinenz zwischen Analytikerin und Analysand. Nun baten beide den Frankfurter Psychoanalytiker Karl Landauer um Rat. Landauer empfahl Fromm die Fortsetzung der Analyse bei einem anderen Analytiker. Am 16. Juni 1926, dem Hochzeitstag von Fromms Eltern, heirateten Erich Fromm und Frieda Reichmann ohne jüdisches Ritual. Damit begehrten sie gegen das orthodoxe Judentum ihrer Herkunftsfamilien auf. Fromm entschloss sich nun, Psychoanalytiker zu werden, öffnete sich aber auch dem Buddhismus, später dem Quäkertum und dem Zen-Buddhismus. Unter den Psychoanalytikern fühlte er sich zu Georg Groddeck und Sándor Ferenczi hingezogen, die sich mit ganz besonderer Empathie auf ihre Patienten einlassen konnten. Fromm machte weitere Analyseversuche. Sie führten ihn zunächst nach München zu Wilhelm Wittenberg, dann zu Karl Landauer nach Frankfurt, bis er schließlich, 1928, zu Hanns Sachs nach Berlin, ans Berliner Psychoanalytische Institut kam. Hanns Sachs war 1923 bereits Frieda Reichmanns Lehranalytiker gewesen. An diesem Institut war 1923/24 das weltweit erste Konzept einer systematischen psychoanalytischen Ausbildung entwickelt worden - denn die Psychoanalyse drohte durch die vielen selbsternannten Psychoanalytiker in Verruf zu geraten.
Ausbildung am Berliner Psychoanalytischen Institut
Am Berliner Institut fühlte sich Fromm vor allem zu Karen Horney, die als besonders mütterlich galt, hingezogen. Hier machte er sich mit mehreren Vorträgen bekannt: Am 18. Juni 1927 galt er noch als Gast aus Heidelberg. Er sprach über „Heilung eines Falles von Lungentuberkulose während der psychoanalytischen Behandlung“. Am 13. März 1928 hielt Fromm einen Vortrag zur Psychoanalyse des Kleinbürgers (IZP / XIV / 1928 / 426). Anlässlich der zweiten Tagung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft in Dresden vom 27. bis 29. September 1930 sprach er über die Anwendung der Psychoanalyse auf die Soziologie (IZP / XVII / 1931 / 156) und am 16. September 1930 hielt er seinen letzten Vortrag am Berliner Institut. Darin ging es um den Glauben an die Allmacht der Gedanken (IZP / XVII / 1931 / 291). Am 7. Oktober 1930 wurde Erich Fromm zum außerordentlichen Mitglied der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft gewählt.In seiner Berliner Zeit gehörte Erich Fromm dem linken Flügel des „Kinderseminars“ um Wilhelm Reich und Otto Fenichel an.
Obwohl Fromm in Berlin, am Bayerischen Platz 1 seine Praxis eröffnet hatte, bleibt offen, ob er hier seine Zukunft sah – denn in Frankfurt gehörte er, 1929, zusammen mit Karl Landauer, Heinrich Meng, Siegmund Heinrich Fuchs (S.H. gen. "Mikel" Foulkes) und Frieda Fromm-Reichmann zu den Gründern des Frankfurter Psychoanalytischen Instituts der Südwestdeutschen Psychoanalytischen Arbeitsgemeinschaft. Das Frankfurter Psychoanalytische Institut war die einzige Dependance des Berliner Psychoanalytischen Instituts in Deutschland. Zukünftige Therapeuten konnten hier nur einen Teil ihrer Ausbildung absolvieren und mussten sie in Berlin abschließen. Die Besonderheit des Instituts bestand weiter darin, dass sich hier Ärzte, Pädagogen, Juristen und Soziologen psychoanalytisch weiterbilden konnten. So begab sich z.B. Max Horkheimer in Analyse zu Karl Landauer, um sein Verhältnis zum Geld psychoanalytisch zu ergründen. Das Institut arbeitete eng mit dem Institut für Sozialforschung (IFS) zusammen. Da das IFS war über seinen Gaststatus an die Universität angeschlossen war, konnten psychoanalytische Vorlesungen auch an der Universität gehalten werden und psychoanalytische Lehrveranstaltungen in den Räumen des IFS. Ein Jahr später eröffnete das Frankfurter Psychoanalytische Institut ein Therapeutikum, das allerdings 1932 aus wirtschaftlichen Gründen wieder geschlossen werden musste (IZP / XIX / 1933 / 2769).
Fromm als sozialpsychologischer Forscher
Am Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS) wurde Fromm 1930 zum Leiter der Sozialpsychologischen Abteilung ernannt. Das, was Max Horkheimer als große Linie zwischen Psychoanalyse und marxistischer Gesellschaftstheorie entworfen hatte, versuchte Fromm in einem soziologischen Format zu erforschen. In einer groß angelegten Fragebogenaktion, die sich an Arbeiter und Angestellte richtete, untersuchte er die Auswirkungen der Massenarbeitslosigkeit von 1929 mit der Frage, ob sich die Arbeiter gegen die gesellschaftlichen Zustände auflehnen oder sich in sie hineinfügen würden. Diese Untersuchung ging maßgeblich in die Studien über „Autorität und Familie“ der Frankfurter Schule von 1936 ein.
Seine neue Aufgabe am Frankfurter Institut war allerdings von seiner TBC – Erkrankung überschattet. Vom Sommer 1931 an musste er sich in Davos – mit Unterbrechungen – bis April 1934 behandeln lassen. Er trennte sich von Frieda Fromm-Reichmann, blieb ihr jedoch weiterhin freundschaftlich verbunden (Scheidung erst 1942).
Am 8. Oktober 1932 wurde Erich Fromm zum ordentlichen Mitglied der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG) gewählt.
1933 lud Karen Horney, mit er eng befreundet war, Fromm zu einer Gastvorlesung am Institute for Psychoanalysis der Chicagoer Universität ein.
Flucht in die USA und konflikthafter Neubeginn
Die politische Situation in Deutschland wurde zunehmend unerträglich. Am 13. März 1933 wurde das IfS geschlossen und enteignet. In Berlin hatten bereits führende Psychoanalytiker das Land verlassen. Erich Fromm floh zunächst nach Genf und emigrierte im Mai 1934 in die Vereinigten Staaten. Er hielt Vorträge an der Columbia University in New York, und im gleichen Jahr, 1934, erschien seine Studie zur sozialpsychologischen Bedeutung der Bachofenschen Mutterrechtstheorie.
Fromm arbeitete mit Harry Stack Sullivan und Clara Thompson zusammen. Im Dezember 1935 brachen die Brücken nach Deutschland endgültig ab, nachdem Fromm, wie die anderen jüdischen Mitglieder der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft, ihren Fachverband verlassen mussten, damit die „arischen“ Mitglieder im Deutschen Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie, dem „Göring-Institut“, mitarbeiten konnten.
1937 wurde Fromm direktes Mitglied der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung.
Im selben Jahr zeigten sich gravierende Konflikte mit Horkheimer, Löwenthal, Marcuse und Adorno. Fromms Abwandlung der Freudschen Triebtheorie in eine analytische Sozialpsychologie (Bezogenheitstheorie statt Triebtheorie) wurde von den Vertretern des Instituts für Sozialforschung abgelehnt. 1938 trennte sich Fromm vom Institut für Sozialforschung. Offiziell wurde die gemeinsame Arbeit 1939 aufgekündigt. Fromm war seit 1934 einer der wichtigsten Mitarbeiter des Instituts gewesen und hatte die sozialpsychologische Grundlage für die Studien über Autorität und Familie gelegt. Max Horkheimer, der anfangs begeistert von Fromms Kreativität und seinem Beitrag gewesen war, zeigte sich nun tief enttäuscht. Theodor Wiesengrund Adorno nahm Erich Fromms Platz ein.
Fromms Abwendung vom Institut für Sozialforschung und Hinwendung zu seiner neuen Heimat in der Washington School of Psychiatry fand in der ersten Arbeit, die er auf Englisch verfasst hatte, „A Contribution to the Method and Purpose of an Analytical Social“ (1937) ihren Ausdruck.
1938 verbrachte Erich Fromm seinen Europaurlaub zusammen mit Karen Horney. Trotz ihrer intimen Beziehung war Marianne Horney, Horneys mittlere Tochter, auf Empfehlung ihrer Mutter hin, bei Fromm in Lehranalyse. Während des Urlaubs erkrankte Fromm wieder an TBC und blieb ein halbes Jahr in Davos.
Anfang Februar 1939 kehrte er nach New York zurück. Seine Beziehung zu Karen Horney war von beiden Seiten offen. Sie hatte Affären mit Paul Tillich und Erich Maria Remarque und Erich Fromm mit der Tänzerin, Choreographin und Ballettdirektorin Katherine Dunham.
Fromm als analytischer Gesellschaftskritiker
Fromm wurde - allerdings nur für zwei Jahre (1939-1940) Mitglied der American Psychoanalytic Association und erhielt am 25. Mai 1940 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Er unterrichtete an der New School for Social Research. Mit seiner Publikation ‚Furcht vor der Freiheit‘(Escape from Freedom) einer historisch-geisteswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Faschismus war er 1941 schlagartig bekannt geworden. Er skizzierte darin die Grundzüge des autoritären Charakters und seiner sado-masochistischen Struktur. Der Philosoph und Historiker der Frankfurter Schule, Rolf Wiggershaus, sieht in diesem Konzept den fruchtbarsten intellektuellen Beitrag Fromms zur Kritischen Theorie (Otte,1990).
1942 lehrte er mit einer Teilzeitprofessur am Bennington College in Bennington (Vermont), nördlich von New York. Am New York Psychoanalytic Institute fanden heftige Auseinandersetzungen zwischen Karen Horney und den „orthodoxen“ Psychoanalytikern statt, die zur Spaltung der Gesellschaft führten. Karen Horney gründete, zusammen mit Gleichgesinnten, die Association for the Advancement of Psychoanalysis (AAP) und das dazu gehörende Ausbildungsinstitut, das American Institute for Psychoanalysis. Da Fromm kein Arzt war, konnte er nur als Ehrenmitglied aufgenommen werden. Er wehrte sich gegen diese Schmalspurmitgliedschaft.
1943 verließ er die Association (AAP), zusammen mit der damaligen Präsidentin Clara Thompson und weiteren Mitgliedern. Gleichzeitig trennte er sich von Karen Horney.
Fromm gründete nun, zusammen mit Sullivan, Fromm-Reichmann, Thompson und David und Janet Rioch einen New Yorker Zweig der 1936 von Sullivan gegründeten Washington- Baltimore School of Psychiatry (den ‘Zodiac Circle‘). 1946 wurde dieses Institut in William Alanson White Institute of Psychiatry, Psychoanalysis and Psychology umbenannt. In diesem Institut wurden nicht nur Psychiatern und Psychologen psychoanalytisch ausgebildet. Ähnlich wie am alten Frankfurter Institut wurden hier auch psychoanalytische Veranstaltungen für Lehrer, Pfarrer, Sozialarbeiter, Krankenschwestern und Ärzte angeboten.
Nach der Revision seiner psychoanalytischen Position, nach dem Zweiten Weltkrieg, wurde Erich Fromm stillschweigend aus der IPV ausgeschlossen.
Blick in das verwüstete Europa
1944 heiratete Erich Fromm die deutsche Jüdin und linksorientierte Fotografin Henny Gurland, Tochter des Präsidenten der New School of Social Research. Sie brachte ihren Sohn Joseph mit in die Ehe. Gurland war, zusammen mit Walter Benjamin, im September 1940 auf der Flucht nach Spanien, Zeugin von Benjamins Tod gewesen. Nach 3- monatiger Wartezeit in Lissabon konnte sie, zusammen mit ihrem Sohn, nach New York entkommen.
Den Beginn der im nationalsozialistischen Deutschland herrschenden Rechtlosigkeit hatte Fromm noch selbst miterlebt. Nun erfuhr er von Verwandten und vermittelt durch die kritische amerikanische Presse, von dem Ausmaß, den Judenhass und Antisemitismus angenommen hatten. Fromms Vater war bereits Ende 1933 gestorben. Seine Mutter Rosa Fromm konnte sich erst 1939 zur Flucht aus Deutschland nach England überreden lassen und lebte seit 1941 in New York. Sie starb 1959.
Mehrere Verwandte seiner mütterlichen Familie waren unter den Opfern der Nationalsozialisten. Rosa Fromm hatte fünf Geschwister. Ihre ältere Schwester Sophie Engländer, geb. Krause, und ihr Mann, der Gymnasialprofessor Dr. phil. David Engländer, hatten in Berlin gelebt. Sie starben in Theresienstadt. Ihre Berliner Adressen: vor dem Ersten Weltkrieg in der Klopstockstr. 21, seit 1937 am Kaiserdamm 4. Dr. phil. David Engländer, geboren in Murowana Goslin 1863, wurde mit dem Transport I/60 am 7.9.1942 zusammen mit seiner Frau Sophie nach Theresienstadt deportiert. Der Ingenieur Martin Krause, ihr jüngerer Bruder und seine Frau Johanna, die in Berlin ebenfalls im Tiergartenviertel gewohnt hatten, wurden am 21.12.1942 in Tawnik ermordet. Sie wohnten in der Klopstockstr., 9. Eine Cousine der Mutter, nahm sich 1936 im Exil in Paris das Leben, eine andere, Gertrud Brandt, wurde nach ihrer Umsiedlung von Posen nach Ostrow-Lubelski 1943 in einem Lager ermordet. Drei ihrer vier Kinder wurden verfolgt. Ihnen konnte Erich Fromm, der mit Bürgschaften und finanzieller Unterstützung eingesprungen war, nicht helfen.
Henny Gurland hatte sich auf ihrer Flucht vor den Nationalsozialisten ein schweres Rückenmarksleiden zugezogen. Nun kam eine rheumatische Arthritis hinzu. Erich Fromm entschloss sich, mit ihr zusammen, 1950, nach Mexiko-Stadt zu ziehen, in der Hoffnung, dass ihr die radioaktiven Heilquellen helfen könnten. Nach nur zwei Jahren starb sie.
Erich Fromm in Mexiko
Im Winterhalbjahr 1948/1949 hielt Erich Fromm an der Yale University die Terry Lectures über Psychoanalyse und Religion und ging dann nach Mexiko. Fromm blieb insgesamt 25 Jahre in Mexiko, lehrte an der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) und hielt Vorträge in Europa und an verschiedenen amerikanischen Universitäten.
1953 heiratete Erich Fromm die US-Amerikanerin Annis Freeman, geb. Glover (1902-1985) und zog mit ihr in ein eigenes, neu erbautes Haus in Cuernavaca (bei Mexiko City).
In den kommenden Jahren war Erich Fromm schriftstellerisch sehr erfolgreich.
Er schrieb: Wege aus einer kranken Gesellschaft (1955), Die Kunst des Liebens (1956), Sigmund Freud. Seine Persönlichkeit und Wirkung. (1959), Das Menschenbild bei Marx (1961), Die Seele des Menschen (1964), Ihr werdet sein wie Gott (1966) und zum Abschluss seiner mexikanischen Jahre, Anatomie der menschlichen Destruktivität (1973).
Fromm wandte sich dem Zen Buddhismus zu und lud den an der Columbia University lehrenden Zen Meister Daisetz T. Suzuki, der auch mit C. G. Jung zusammengearbeitet hatte, 1957 zu einem Seminar nach Mexiko ein. Im selben Jahr engagierte sich Fromm in der US-amerikanischen Friedensbewegung und wurde kurzfristig Mitglied der Sozialistischen Partei der Vereinigten Staaten. Anknüpfend an seine empirischen Untersuchungen zum autoritären Charakter führten er und seine Mitarbeiter ab 1957 eine sozialpsychologische Untersuchung eines mexikanischen Bauerndorfes durch. Die Ergebnisse veröffentlichte er 1970, gemeinsam mit Michael Maccoby, unter dem Titel Social Character in a Mexican Village.
1960 gelang Fromm die Verankerung einer pluralistischen psychoanalytischen Ausbildung an der Medizinischen Fakultät Mexikos. Die von ihm entwickelte „Humanistische Psychoanalyse“ stand im Mittelpunkt der Ausbildung. Aber es wurden auch die Lehren von Freud, Jung, Adler, Rank, Ferenczi, Horney, Sullivan, Alexander, Klein, Erikson, Hartmann und anderen unterrichtet. Parallel zu seiner Lehrtätigkeit in Mexiko führte er zwischen 1957 und 1961 Lehrveranstaltungen für Psychologie an der Michigan State University durch.
1962 nahm Fromm an der Abrüstungskonferenz in Moskau teil, und 1963 wurde das Mexikanische Psychoanalytische Institut eröffnet.
Parteienübergreifendes politisches Engagement und Rückkehr nach Europa
Aus einer komplizierten Gemengelage heraus, zwischen dem Wunsch nach internationalen Verbindungen europäischer psychoanalytischer Gruppen, die nicht der IPV angehörten, amerikanischen, die nach Austausch in einem „freieren“ psychoanalytischen Milieu suchten, und diversen politischen, historischen und theoretischen Loyalitäten, wurde die IFPS (International Feuderation of Psychoanalytic Societies, Dachverband nichtorthodoxer psychoanalytischer Gesellschaften) gegründet. An der Gründung, im Jahre 1962, war Fromm, zusammen mit Werner Schwidder und Franz Heigl maßgeblich beteiligt. Er setzte sich auch hier, gegen die ärztliche American Academy, für die Präsenz nichtärztlicher Psychoanalytiker ein. Im selben Jahr hielt er Lehrveranstaltungen an der “Graduate School of Arts an Science” der New York University (GSAS) ab (Huppke).
Mit seiner Emeritierung, 1965, engagierte er sich vor allem politisch in der Friedenspolitik und gegen den Vietnamkrieg und initiierte 1965 ein Symposium zum „Sozialistischen Humanismus“, das jenseits der existierenden Parteien abgehalten wurde. Fromm unterstützte Senator Eugen McCarthy (nicht mit Joseph zu verwechseln), dessen Politik sich ebenfalls gegen den Vietnamkrieg richtete. Der Höhepunkt von Fromms Publizität in den USA war die 1966 erschienene Publikation: Ihr werdet sein wie Gott.
Erich Fromm litt zunehmend unter Herzbeschwerden und zog sich aus dem aktiven politischen Leben zurück. 1966, 1977 und 1978 erlitt er jeweils einen Herzinfarkt.
1974 zog er zusammen mit seiner Frau in den Tessin, nach Muralto bei Lugano. Nach einem weiteren Herzinfarkt, wenige Tage vor seinem 80. Geburtstag und vor dem Erscheinen der zehnbändigen Gesamtausgabe seines Werks starb Erich Fromm.
Ein Jahr nach seinem Tod wurde Erich Fromm die Frankfurter Goethe-Plakette verliehen.1985 initiierte sein letzter Assistent, der Herausgeber Fromms zehnbändiger Gesamtausgabe und sein Nachlassverwalter, der Philosoph, Theologe und Psychoanalytiker Rainer Funk, die Internationale Erich-Fromm-Gesellschaft, zur Förderung der „lebendigen Auseinandersetzung mit Fromms Gedankengut“.
Diese Biografie entstand in weitgehender Anlehnung an die Publikationen von Rainer Funk. Für seine großzügige Unterstützung sei hiermit herzlich gedankt.
Literatur:
Berliner Adressverzeichnis: https://digital.zlb.de/viewer/cms/82/
Friedman, L. J.( 2013): The Lives of Erich Fromm – Love’s Prophet, New York (Columbia University Press); New York.
Fromm, E. (1936): Sozialpsychologischer Teil. In: Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung. Alcan, Paris, S. 77–135.
Fromm, E. (1936): Zweite Abteilung: Erhebungen (Erich Fromm u. a.). In: Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung. Alcan, Paris, S. 229–469
Fromm-Gesellschaft https://fromm-online.org/das-leben-erich-fromms/tabellarische-biografie/
Funk, R. (1980): „Zu Leben und Werk Erich Fromms“, in: Erich Fromm Gesamtausgabe in 10 Bänden, ed. by Rainer Funk, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt), 1980, Vol. 1, pp. IX-XXXIV.
Funk, R. (1999): Erich Fromm – Liebe zum Leben. Eine Bild-Biographie, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt) 176 pp. Reprint: München (Deutscher Taschenbuch-Verlag).
Funk, R. (2009): Erich Fromm und der Holocaust. In: (Hg) Gelber, Hessing, Jütte: Integration und Ausgrenzung. Studien zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Max Niemeyer Verlag Tübingen (S.323 – 334).
Funk, R. (2018): Das Leben selbst ist eine Kunst. Einführung in Leben und Werk von Erich Fromm. Verlag Herder, Freiburg.
Herrn, R. (2022): https://gedenkort.charite.de/menschen/herta_seidemann/.
© 2022 Charité – Universitätsmedizin Berlin
Huppke, A. (2018): Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der International Federation of Psychoanalytic Societies (IFPS) zwischen 1960 und 1980 im Kontext der internationalen, insbesondere der deutschen Psychoanalyse. Dissertation, Universität Konstanz.
Lévy, A. (2000): Traditionen und Perspektiven im Werk von Erich Fromm. Dissertation. Fachbereich Philosophie (Karl-Friedrich Wessel und Gerhard Danzer) an der Humboldt-Universität Berlin, Berlin 2000, 196 pp. https://edoc.hu-berlin.de/handle/18452/15214
Otte, R. (1990): Erich Fromm - Ein Porträt Teil 1: "Leben durch Geschichte". PhilosophieKanal vom 06.07.2012 https://www.youtube.com/watch?v=7JVfcN6Nd5Y, Teil 2/2: "Mut zum Menschen" https://www.youtube.com/watch?v=tAJh1ftv8PQ.
Pietsch, J. (2006): Ich besaß einen Garten in Schöneiche bei Berlin. Das verwaltete Verschwinden jüdischer Nachbarn und ihre schwierige Rückkehr. Campus Verlag, Frankfurt New York.
Weiterführender Link: https://freilandmuseum.de/das-museum/neues-aus-dem-museum/details/erich-pinchas-fromm
English Chronicle
23.03.1900 Erich Pinchas Fromm is born in Frankfurt, the only child of orthodox-Jewish vintner Naphtali Fromm and his wife Rosa, née Krause. Shaped by his religious background, an early wish of Fromm’s is to become a scholar of the Talmud.
1918 Passes the ‘Abitur’ (school-leaving exams), then studies law in Frankfurt.
1919 Transfers to Heidelberg and reads economics, sociology, psychology and philosophy (under Max and Alfred Weber, Heinrich Rickert and Karl Jaspers). With Rabbi Georg Salzberger, becomes a founder member of the “Freies Jüdisches Lehrhaus” (a free, Jewish adult education centre). Briefly, Fromm is also involved with a Zionist youth organisation.
1920 Until 1925, he takes Talmud lessons with Rabbi Rabinkow, who influenced him greatly.
1922 Completes his doctorate in Heidelberg, under Alfred Weber, on Das Jüdische Gesetz. Ein Beitrag zur Soziologie des Diaspora-Judentums (‘Jewish Law. A Contribution to the Sociology of the Jewish Diaspora’).
Turns to psychoanalysis.
1924 With Frieda Reichmann, opens a private, psychoanalytic sanatorium (the “Torapeutikum”) in Heidelberg.
1926 Marries his analyst Frieda Reichmann. Has some contact with Georg Groddeck.
Fromm’s break from Judaism coincides with the ascendance of his ‘non-theistic, humanist religiosity’. He develops an interest in Buddhism, later also in the Quaker movement and in Zen Buddhism.
1928 Trains in psychoanalysis with the Berlin Psychoanalytic Institute; Hanns Sachs is his training analyst. Gives a paper on 'Psychoanalyse des Kleinbürgers' (‘Psycho-Analysis of the Petty Bourgeois’) to the Berlin Institute.
1930 Co-founds the clinic of the Frankfurt Psychoanalytic Institute of the South West German Psychoanalytic Study Group and lectures at the Institute alongside Karl Landauer, Frieda Fromm-Reichmann, Sigmund Heinrich Fuchs (later Foulkes) and Heinrich Meng.
Joins the staff of the Frankfurt Institute for Social Research; among his colleagues are M. Horkheimer, Adorno, F. Pollock, Wittvogel, H. Marcuse and L. Loewenthal. Fromm heads the department of social psychology. Produces empirical studies on authority, on family and on the susceptibility to fascism.
Opens a private psychoanalytic practice in Berlin.
1931 In the summer, Fromm succumbs to tuberculosis and retreats to a health resort in Davos, Switzerland, where he is to stay until April 1934. Separates from Frieda Fromm-Reichmann.
1932 8th October: Erich Fromm becomes a full member of the German Psychoanalytic Society (DPG).
1933 Develops a friendship with Karen Horney; she invites him to Chicago for a guest lecture.
Death of Fromm’s father.
1934 Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstherorie (‘The Significance of Matriliny in Social Psychology’). Emigrates to the US via Geneva. Lectures at the Institute of Psychoanalysis in Chicago and at Columbia University in New York.
1935 The Social Determinants of Psychoanalytic Therapy. Collaborates with Harry Stack Sullivan and Clara Thompson. Frieda Fromm-Reichman, with whom he has maintained friendly relations, founds Chestnut Lodge, an important centre for the treatment of psychoses in Washington, DC. Until December, Fromm remains listed as ‘Auswärtiges Mitglied’ (Foreign Member) of the DPG. Thereafter, he and all other Jewish members are expelled from the German Society.
1937 Obtains direct membership of the International Psychoanalytic Association.
1939 Fromm’s collaboration with the Frankfurt Institute for Social Research comes to a conflict-ridden end. During a visit to Europe, he suffers another bout of tuberculosis; for 6 months, he moves to the Swiss Schatzalb, above Davos.
1940 Erich Fromm is granted American citizenship.
1941 Escape from Freedom, his examination of fascism from a historical and humanities-influenced point of view, is published. Teaches at the New School for Social Research. With Karen Horney, co-founds the American Institute of Psychoanalysis.
1942 Is appointed part-time to a Chair at Bennington College, Bennington, Vermont.
1943 Teaches at the Washington School of Psychiatry. Splits from Horney and co-founds the William Alanson White Institute in New York; its director is Harry Stack Sullivan.
1944 Marries Henny Gurland.
1946 Man for Himself.
1949 Psychoanalysis and Religion grows out of the Terry Lectures on religion at Yale University.
1950 Erich Fromm is quietly expelled from the IPA. Moves to Mexico City. Sets up a department for
psychoanalysis within the Mexican medical faculty. Is appointed to Chair at the Universidad Nacional Autónoma de Mexico.
1951 Forgotten Language: An Introduction to the Understanding of Dreams, Fairy Tales and Myths.
1952 Henny Gurland dies.
1953 Marries Annis Freeman, née Grover.
1955 The Sane Society.
1956 Has a house built in Cuernavaca, near Mexico City. Foundation of the Mexican Psychoanalytic Society. The Art of Loving.
1957 Gets involved with the American Peace Movement and, briefly, joins the US Socialist Party.
Frieda Fromm-Reichmann dies.
1960 Establishes a pluralist psychoanalytic training within Mexico’s medical faculty. Fromm’s own
‘humanist psychoanalysis’ is central to the curriculum; the theories of Freud, Jung, Adler, Rank, Ferenczi, Horney, Sullivan, Alexander, Hartman and others are taught alongside.
1957 -1961 In parallel, Fromm teaches at Michigan State University as professor for psychology.
1961 Marx’s Concept of Man.
1962 Attends peace conference in Moscow. With Werner Schwidder and Franz Heigel, founds the International Federation of Psychoanalytic Societies (IFPS; an umbrella organisation of non-orthodox psychoanalytic societies) as a counterweight to the IPA. Beyond the Chains of Illusion.Accepts a teaching post at the Graduate School of Arts and Science, New York University.
1963 Inauguration of the Mexican Psychoanalytic Institute.
1964 The Heart of Man.
1965 Is given emeritus status. Increases his engagement with the peace movement and against the Vietnam War; generates considerable publicity in the US.
1966 You Shall be as Gods. Fromm develops a heart condition and gradually retreats from political activism (supporting Senator Eugene McCarthy, for example).
1971 Psychoanalysis and Zen Buddhism.
1973 The Anatomy of Human Destructiveness.
1974 Moves to Muralto (Ticino, Switzerland).
1976 To Have or to Be.
18.03.1980 Erich Fromm dies in Locarno.
1981 Posthumously, is awarded the ‘Frankfurter Goethe Plakette’ (an honour conferred by the city of Frankfurt am Main).
1985 Foundation of the International Erich Fromm Society to “maintain, to research, to develop further and to pass on the scholarly findings and ideas of Erich Fromm”.
(Based on Rainer Funk and other sources)
(Translated by Wilhelm Skogstad)
Stadtplan
Gedenktafel:
Adresse: Bayerischer Platz 1, 10779 Berlin
Sponsoren: Anna-Freud-Oberschule
Datum der Enthüllung: 01.07.2006
Anlass: Initiative des Kollegiums der Anna-Freud-Oberschule
Mitwirkender: Knuth Müller
Quellen, Bilder:
Die Fotos wurde mit freundlicher Genehmigung von Rainer Funk, dem Buch: Erich Fromm. Liebe zum Leben. Eine Bildbiografie (2011) dtv, entnommen.
Vater Naphtali Fromm und Sohn Erich, Ende Dezember 1913, in Montreux. S.11
Erich Fromm als Schüler S.34
Erich Fromm als Student S.511938 auf der Schatzalp in Davos, zur TBC-Behandlung S.87
Erich Fromm, 1963, S. 149
Erich Fromm, 1963, S.151
Kühnel und Fromm: Archiv der DPG
Gedenktafel, Foto, Regine Lockot
Bayerischer Platz 1, Foto, Regine Lockot
Kollegium der Anna-Freud-Oberschule, Foto, Regine Lockot